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■ Bundespräsident Herzog riskiert in China Streit um die Menschenrechte. Doch ihm fehlt eine schlüssige StrategieDer Maulwurf wühlt weiter

Bevor er nach China fuhr, hat Roman Herzog die Karten auf den Tisch gelegt. Eine ebenso seltene wie erfreuliche Aktion. Hat er sich doch mit seinem Artikel in der Zeit über die Möglichkeiten einer realistischen internationalen Menschenrechtspolitik angreifbar gemacht. Die auf Herzogs Artikel folgende, kontroverse Diskussion in der Zeit war ein guter Anfang.

Beim weltweiten Kampf um die Menschenrechte geht es, darin hat Herzog recht, nicht so sehr um das Ob sondern um das Wie. Kaum ein Staat leugnet heute noch die Verbindlichkeit der Menschenrechte. Obwohl China den beiden Menschenrechtspakten von 1966 nicht beigetreten ist, hat es eine Reihe von UNO-Menschenrechtskonventionen ratifiziert, zum Beispiel die über das Verbot der Folter. Die chinesische Publizistik kennt die Universalität der Menschenrechte an, stets verbunden mit dem Hinweis auf unterschiedliche kulturelle und politische Traditionen bei deren Verwirklichung. Peking nimmt für sich in Anspruch, die Menschenrechte verwirklicht zu haben. Wie es um den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung bestellt ist, kann bei amnesty international nachgelesen werden.

Es gilt also erst einmal, Chinas Machthaber mit ihrem menschenrechtlichen Anspruch zu konfrontieren. Dabei macht Herzog einen schwerwiegenden Fehler. Er trennt einen Kern der Menschenrechte, wo er nicht mit sich reden lassen will, von einem weiteren Kreis von Rechten, deren Realisierung Zeit brauche, die abhängig seien vom Entwicklungsgrad der Gesellschaft. Zum Kern zählt er das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Verbot der Folter, der Sklaverei, der Zwangsarbeit. Meinungs-, Organisations- und Informationsfreiheit fallen nicht darunter.

Daß die Menschen zuallererst etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf haben müssen, bedeutet aber noch lange nicht, daß die Menschenrechte entsprechend hierarchisiert werden können. Herzog schreibt in der Zeit: „Für hungrige Menschen hat ein Recht wie die Meinungsfreiheit zwangsläufig geringere Bedeutung als für satte.“ Der Bundespräsident begibt sich mit dieser „Zwangsläufigkeit“ auf das Terrain des Gegners. Denn die chinesischen Juristen werden nicht müde, dem „Recht auf Leben“, das heißt der schieren Existenzsicherung, den absoluten Vorrang einzuräumen. Und dieses „Muttergrundrecht“ sei abhängig von der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Denn nur deren Triumph im nationalen Befreiungskampf habe garantiert, daß Hunger und Elend besiegt werden konnten. Diese Legitimationsideologie kommt ohne Antwort auf die Frage aus, wie es um die sozialen Rechte in China heute steht. Denn die Partei verkörpere objektiv die Bedürfnisse der Volksmassen.

Gerade der Sieg der friedlichen Revolutionen in Osteuropa, errungen auf dem Hintergrund scharfer ökonomischer Krisen, oft von Massenelend, hätte Herzog gegenüber seiner Argumentation mißtrauisch machen müssen. Überall standen im europäischen Völkerfrühling 1989/90 die Freiheitsrechte an erster Stelle. Aber Herzog zieht aus dem Zusammenbruch der realsozialistischen Regime in Europa gerade die falsche Lehre, indem er empfiehlt, die Strategie „Wandel durch Annäherung“ umstandslos auf China zu übertragen. So richtig die „Ostpolitik“ in den 70er Jahren bis zur KSZE-Gründungskonferenz war, so unhaltbar wurde sie in den 80ern. Sie setzte ausschließlich auf „Dialog“ mit den Machthabern zu einer Zeit, als deren innere Zerrüttung bereits zutage trat und sich unterhalb einer scheinbar pazifizierten Oberfläche die demokratischen Widerstandskräfte zu regen begannen. Unausgesprochen steht hinter Herzogs Vorschlag die Auffassung, in China interessiere sich nur eine Handvoll Intellektueller für die Verwirklichung der Menschenrechte. So dachten viele vor den Demonstrationen der Hunderttausenden in Peking 1989, und so denken auch jetzt wieder viele, die meinen, nun seien aber ausnahmslos alle Demokraten im Knast oder im Exil. Aber wühlt der Maulwurf, von dem Marx einst mit Hochachtung sprach, nicht weiter?

Zu Recht weist Herzog auf spontane Liberalisierungstendenzen hin, die vom Markt, von der mit ihm einhergehenden größeren Rechtssicherheit im ökonomischen Bereich, von der Verbreitung moderner Kommunikationsmittel, von der entstehenden Mittelklasse ausgehen. Aber sind diese neuen Mittelschichten per se Träger der künftigen Civil Society? Besteht nicht auch die Gefahr, daß sie sich ganz gut einem autoritären Herrschaftssystem einpassen, wie heute das Beispiel Singapur lehrt und morgen vielleicht Hongkong? Zweifellos entwickeln sich zwischen Politik und Ökonomie, zwischen starr behaupteter Parteiherrschaft und einer quirligen, buntscheckigen, dabei kraftvollen wirtschaftlichen Dynamik Widersprüche. Aber deren Verschärfung vollzieht sich in einem langfristigen Prozeß, an dem nichts gesetzmäßig ist.

Kaum jemand der hiesigen angeblichen Menschenrechts-Fundamentalisten fordert ökonomische Sanktionen gegen die Volksrepublik. Insofern stößt Roman Herzog ins Leere, wenn er die Mentalität des „Alles oder Nichts“ angreift. Sein Leitsatz vom „prinzipiengeleiteten Pragmatismus“ in Menschenrechtsfragen wird in dem Maße unglaubwürdig, in dem er es unterläßt, politische Maßnahmen zu benennen, mittels derer den systematischen Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Machthaber beizukommen wäre. Man behaupte nicht, das Regime höre auf keinerlei Mahnungen und Anklagen, reagiere auf sie vielmehr mit noch brutalerer Härte. Bis jetzt hat es die Bundesrepublik im Geleitzug der Europäischen Union nicht einmal geschafft, bei der Menschenrechtskommission in Genf eine Resolution durchzubringen, aufgrund derer ein Sonderberichterstatter zu China einzusetzen wäre. Small wonder: In der EU-Erklärung zu einer langfristigen Chinapolitik findet sich nur ein matter Hinweis, China solle die Menschenrechte beachten, garniert mit Lobsprüchen auf den „politischen Dialog“ – mit den Herrschenden.

Statt einer klaren Linie Rückwärtsgang beim ersten chinesischen Hüsteln, statt offener Worte augenzwinkernde Anbiederung, statt politischer Strategie Zuflucht hinter dem vielfach widerlegten Argument, die Sicherung deutscher Arbeitsplätze erfordere Wohlverhalten. Mit diesem Gepäck auf dem Buckel kletterte jetzt der Bundespräsident auf die Chinesische Mauer. Dem Vernehmen nach scheint ihm dabei rasch die Puste ausgegangen zu sein. Christian Semler

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