Bundespolitik in Zeiten der Finanzkrise: Regieren auf Sicht
Die Stimmung bei Wirtschaftsleuten und Politikern gleicht der nach dem 11. September 2001. Die Krise dominiert quer durch alle politischen Lager die Diskussionen.
Es war ausgerechnet das Gebäude einer Bank, in dem sich die Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestags am Dienstagabend versammelten, kaum dass die Plenardebatte über die Finanzkrise beendet war. Der repräsentative Bau am Pariser Platz, direkt neben dem Brandenburger Tor, kündete noch von einer Selbstgewissheit, die die Branche längst verloren hat. Der weite Lichthof, das gediegene Buffet, Karamellcreme mit apulischem Limonenöl - alles erinnerte an bessere Zeiten, obwohl sich die gastgebende Dresdner Bank längst unter die Fittiche der Konkurrenz gerettet hat, weitere Turbulenzen nicht ausgeschlossen.
Über Personen und Programme fürs Wahljahr wollten die Parteivertreter eigentlich vor geladenen Gästen diskutieren. Doch am Tag zwei nach der Merkelschen Garantie der Spareinlagen, dem deutschen Urknall der neuen Weltwirtschaftskrise, wird in Berlin auf Sicht regiert. Niemand weiß, was der nächste Tag, was die nächsten Stunden bringen werden an neuen Schreckensbotschaften aus der Welt von Wirtschaft und Finanzen. Und niemand weiß, ob sich im September 2009 noch irgendjemand für all die schönen Themen vom Mindestlohn bis zur Bildungsoffensive interessieren wird, die sich die Parteistrategen mühsam aufgebaut haben für die Wahl.
Gesundheitsfonds und Arbeitslosenbeitrag, Bundeswehr im Inland und in Afghanistan, selbst ein innenpolitisches Großthema wie die Implosion der CSU - alles verblasst vor den täglichen Horrornachrichten aus Börsen und Banken. "Solche Lappalien wie die Erbschaftsteuer, die regeln wir", spricht SPD-Fraktionschef Peter Struck fast beiläufig in die Rotunde der Dresdner Bank.
Die Stimmung erinnert an die Zeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, und manche Zitate gleichen sich fast bis aufs Wort. "Es gibt Situationen, wo es nachher nie mehr so sein wird, wie es vorher war", sagt Strucks Unionskollege Volker Kauder, und auch diesmal gibt es in der Runde keinen Widerspruch. Nur dass die Bedrohung durch den Terror konkreter war und fassbarer. Damals ging die Angst vor unüberlegten Reaktionen der US-Regierung um. Heute ist es schon schwer genug, zu überblicken, was überhaupt passiert ist und welche Folgen es noch haben wird. Es gibt keine Fernsehbilder, auf denen faule Kredite zu sehen sind oder wertlose Derivate, wie einst die einstürzenden Türme von New York.
Spätestens seit am Sonntag die Koalitionsrunde im Kanzleramt zusammentrat, vollziehen sich Krisenmanagement und Regierungsgeschäft in atemberaubendem Wechsel. Auf dem Weg zur Sitzung erklärten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) um drei Uhr nachmittags die Garantie für die Sparbücher, dann hakten sie bis zur "Tagesschau" gemeinsam mit den Fraktions- und Parteichefs alle tagespolitischen Konfliktthemen ab. In normalen Zeiten gibt es vor den "Tagesthemen" keine Einigung, bisweilen erst zum "Nachtmagazin". U. a. ging es um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Ein Koalitionsstreit über diese Frage, die in der Weltwirtschaftskrise 1930 die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik sprengte, hätte nicht nur bei Sozialdemokraten ungute Erinnerungen geweckt.
Am Montag wiederholten sich die Szenen. Mittags forderte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm die Journalisten auf, die Wirkung der Merkelschen Garantieerklärung nicht durch Detailfragen zu schmälern. Punkt 14 Uhr versammelte sich dann die Arbeitsgruppe zur Reform der Erbschaftsteuer in Kauders Büro, im fünften Stock des Jakob-Kaiser-Hauses mit Panoramablick über Spree und Regierungsviertel. Die Teilnehmer kamen durch den Hintereingang, auf die sonst üblichen Statements vor den Kameras verzichteten sie. Steinbrück hatte sogar die Reise zum Rat der EU-Finanzminister nach Luxemburg abgesagt, die Erbschaftsteuer war wichtiger. Und wieder drängte sich die Finanzkrise nach vorn: Kauder und Struck mussten zwischendurch ins Kanzleramt, wo die Kanzlerin die Fraktionsvorsitzenden über die Staatsgarantie für Bankeinlagen unterrichtete. Als sie zurückkamen, sah es zunächst nach einer Einigung aus. Doch die CSU wollte am Ende noch nicht einlenken. Als einzige Partei zeigen sich die Christsozialen von der Finanzkrise seltsam unbeeindruckt, so sehr sind sie in diesen Tagen mit sich selbst beschäftigt.
Am Dienstagabend tritt der Bundestag zu seiner Sondersitzung zusammen. Anberaumt wurde sie wegen der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Angesichts der zunehmenden Zweifel in allen Fraktionen wäre das in normalen Zeiten ein Großthema gewesen. Diesmal rutschen die meisten nur unruhig auf ihren Sitzen hin und her, bis die Kanzlerin gegen 17.20 Uhr mit ihrer Regierungserklärung zur Finanzkrise beginnt. Erst jetzt füllen sich auch die hinteren Reihen im Plenarsaal.
Seltsame Metamorphosen lassen sich beobachten, etwa bei Linken-Fraktionschef Oskar Lafontaine. Zwölf Tage zuvor, als Steinbrück sich zur Krise erklärt hatte, war er noch als rüder Polemiker aufgetreten, hatte den Anlass zum Begleichen alter Rechnungen mit den einstigen Freunden von Rot-Grün genutzt. Diesmal redet er ganz seriös, kritisiert die theatralischen Erklärung von Merkel und Steinbrück am Sonntag, die die Krise noch verschärft habe. Krisenverschärfend wirkt allerdings auch sein eigener Auftritt. Wenn selbst Lafontaine so ernsthaft redet, denkt man, muss die Lage wirklich schlimm sein.
Noch erstaunlicher ist die Wandlung allerdings bei den Christdemokraten. Nach der Kanzlerin, deren Erklärung so seriös wie leidenschaftslos gerät, spricht für die Union der parlamentarische Geschäftsführer Norbert Röttgen. Er zitiert mehrfach Friedhelm Hengsbach, einen der Vordenker der katholischen Soziallehre. Er fordert von der deutschen Wirtschaft "ein Wort zur ethischen Gebundenheit wirtschaftlicher unternehmerischer Tätigkeit", verlangt die weltweite Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft. Er redet von "bitteren Erfahrungen" und den Lehren, die man ziehen müsse: "Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jedenfalls wird an diesem Werk mitarbeiten."
Es klingt wie der Vortrag eines Renegaten. Am Mittwoch veröffentlicht das Berliner Forsa-Institut dann eine neue Umfrage, die bereits nach der Lehman-Pleite und dem Zusammenbruch von Hypo Real Estate durchgeführt wurde. Die Union kommt nur noch auf 33 Prozent.
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