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Buenos Aires„Die Zeit vergeht“, sagte Don Francisco immer und immer wieder

von Luciana Ferrando

Bei 35 Grad schlafen die Straßenhunde im Schatten der jungen Bäume im alten Hafenviertel La Boca in Buenos Aires. Wenn ein Auto vorbeifährt, bellen einige ihm hinterher und schlafen dann weiter.

La Boca – der Mund, eine Sehenswürdigkeit ist es. Da, die kleinen, bunten Häuser. Und der Tango, der auf der Straße getanzt wird. Dort, das moderne Museum Proa, die Straßenrestaurants, die stillgelegten Gleise, auf denen die Leute ihre Hunde ausführen. Dazu die Slums, die die Touristen nicht sehen wollen. Und der Riachuelo. Mit seinem kontaminierten, fast schwarzen Wasser zählt er zu den schmutzigsten Flüssen der Welt.

Wo einst der Hafen war, ist nun ein Schiffsfriedhof, die Necochea-Straße wie auch die Mündung des Flusses, nach der das Viertel benannt ist, enden an der alten verrosteten Eisenbrücke, dem Symbol von La Boca. Im heißen Wind mischt sich der Gestank des Flusses mit dem Geruch des Fleisches, das Bauarbeiter auf dem Bürgersteig zur Mittagspause grillen, während andere Siesta halten. Cumbialieder aus einem Batterieradio sind zu hören und das Geschrei spielender Kinder aus einer Schule. Ununterbrochen singen die Singzikaden dazu.

In der Bar Brasilia an der heruntergekommenen Ecke Necochea- und Brandsenstraße, einst ein koloniales Haus, ist es still. Nur der Ventilator, der sich an der hohen Decke dreht, macht tac-tac-tac. Ab und zu schlägt der ältere Mann die Fliegenklatsche, die er auf dem Schoß hat, während er Zeitung liest, auf den Tisch. Die graue Katze auf dem Stuhl öffnet ein Auge, schließt es, schläft weiter.

„Café“ steht auf einer Glastür, „Bar“ auf der anderen, die Sonne wirft die Worte als Schatten auf den gelb-rot karierten Boden. An den hellgrünen, von der Luftfeuchtigkeit gefleckten Wänden hängt ein alter Kalender. Daneben das Bild einer argentinischen Tennisspielerin und ein Poster vom jungen Die­go Maradona. Auf der staubigen Holztheke ein einziges Croissant unter einer Glasglocke – „Medialuna“, Halbmond, heißt es in Argentinien. Dazu Sodawasser aus dem Siphon und dahinter ein paar staubige Flaschen in einer Vitrine, ein unvollständiges Schiffsmodell, ein Knoblauchzopf als Glücksbringer.

Eine Frau verlangt Wechselgeld für das Münztelefon auf der Theke. Langsam erhebt sich der Mann und durchquert den ­großen Raum mit nur noch einen halben Dutzend Holztischen und Stühlen. „Kling“, öffnet sich die antike Registrierkasse.

Der Mann, Don Francisco, ist der Besitzer des Cafés. „Einfach Don Francisco“, sagt er, kein Nachname. Sein Alter will er nicht nennen. Er trägt Hemd und Unterhemd, dicke Augenbrauen und Bart, buckelig ist er. Don Francisco zieht ein Bein nach.

Anfang der 60er Jahre zog er aus der Provinzstadt Rosario in die Großstadt Buenos Aires. Wie viele andere suchte er Arbeit und kam im Migrantenviertel La Boca unter. Er schaffte es, mit zwei Freunden ein Café in einem hundert Jahre alten Lokal aufzumachen. Davor wurde dort Tango getanzt, Männer mit Männern, und noch früher empfingen Damen Besuch von Seefahrern, so Don Francisco. „Alles, was sich hier verändert hat, hat die Zeit verändert“, sagte er. Hinter ihm ein verblichenes, bröckelndes Wandbild.

Am Anfang brodelte es, nach und nach wurden die Gäste weniger, die Freunde gingen, Don Francisco blieb hinter der Theke der Bar Brasilia. Keine Familie, keine Heimat, einzig die Arbeit, die alles ersetzt.

In den 80er Jahren begann der Niedergang der Necochea-Straße. „Hier kommt keiner mehr hin“, sagte Don Francisco. Er zählt die Touristen nicht mit, die auf der Suche sind nach malerischen Ruinen und armen Vierteln mit echten Menschen. „Ha, echten Menschen!“ Auch Filmteams kamen zu ihm und mieteten die Bar für einen Dreh.

„Die Filmleute sind geizig, wollen alles für ein paar Groschen“, erzählte Don Francisco einem Fotografen, der ihn porträtieren wollte. „Ich bin kein Künstler, warum sollte ich mich fotografieren lassen?“, fragte er. Der Fotograf insistierte: „Don Francisco, wann kann ich endlich ein Bild von Ihnen machen?“ „Ein anderes Mal. Wenn es 100 Pesos dafür gibt“.

Abgesehen von der schlechten Bezahlung musste Don Francisco bei Drehtagen seine kleine Gruppe von Stammgästen nach Hause schicken: Männer, die in der Bar Brasilia Karten spielten, Fußball guckten, Rotweinschorle tranken. Einige verloren ihre Jobs und konnten ihre Schulden bei Don Francisco nicht zahlen. „Morgen gebe ich Kredit, heute nicht“, stand neben der Kasse. Doch für die Stammgäste machte er eine Ausnahme. Er nannte sie die „muchachos“ – die Jungs, obwohl alle schon alt waren.

Die „muchachos“ spielten gerne Truco, das argentinische Kartenspiel. Manchmal spielten sie die ganze Nacht. Das Team, das am besten lügt, gewinnt. Sie spielten um Kleingeld und riefen das, was man bei Truco ruft: „Quiero!“ „Ich will!“, sagte eine. „Quiero vale cuatro!“ „Ich will vier Mal“, antwortete der andere. „Truco!“, sagte der Erste und zeigte seine Karten. Sie teilten sich Bier, das Don Francisco aus dem Kühlschrank nahm, ein Schälchen Erdnüsse und den vollen dreieckigen Aschenbecher mit Marlboro-Werbung darauf. Manche ließen die Erdnüsse im Bier schwimmen. Don Francisco spielte mit. Die Tür blieb offen; im Hochsommer wird es auch nachts nicht kühler.

Am Sonntag lief das Fußballspiel im Radio. Wenn dann die „muchachos“ kamen, machte Don Francisco den winzigen Fernseher für sie an. Ihre Frauen waren manchmal auch dabei. Ab und zu stand jemand auf und bewegte die Antenne oder klopfte auf das Gerät, damit das Signal besser wird. Sie schimpften und feierten, manche trugen die gelb-blauen Trikots des Fußballteams Boca Juniors. Das Stadion ist so nah, dass man die Tore auch live hören konnte. Don Francisco schnitt Käse und Salami, Wermut wurde getrunken.

„Das war alles früher mal“, sagte Don Francisco. „La Boca ist gefährlich geworden.“ Nachdem der Polizist, der jeden Tag an der Ecke wachte, um 18.30 Uhr den Mützenschirm nach unten zog, um sich von Don Francisco zu verabschieden, wurde die Necochea-Straße „Niemandsland“. „Die Leute haben Angst.“ Angst vor Überfällen, Angst vor den Jugendlichen und Kindern aus den Slums des ärmsten Teils des Viertels, von dort, wo kein Bus mehr fährt und sich kein Taxifahrer hintraut.

Don Francisco zählte, wie oft er ausgeraubt wurde: Sechs Mal mit Waffen, zwei Mal mit Fingern als Pistolen unterm T-Shirt, einmal nannte ihn einer der Diebe mit Namen „Che, Don Francisco dame la guita!“ – „Ey, Don Francisco, gib mir die Kohle!“ Manchmal hatte er nichts zu geben, die Kohle reichte gerade fürs Essen und Miete. Beim letzten Überfall wurde Don Francisco verprügelt. Er nahm es als Zeichen, er sei zu alt für solche „Actionfilme“, und nach fast 50 Jahren gab er seinen Laden auf.

Eine Weile blieb das Café geschlossen, dann wurde es verkauft. Niemand weiß, wer der neue Besitzer ist oder was er vorhat, denn eine neue Kneipe gibt es nicht, nur ein frisch angestrichenes Eckhaus.

Wo ist Don Francisco und was macht er? Wo treffen sich die „muchachos“? Leben sie noch? „Die Zeit vergeht“, sagte Don Francisco immer wieder. Langsam allerdings vergessen mehr und mehr Leute diese Fragen, nur Erinnerungen an die Bar Brasilia sind noch da.

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