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■ Bündnisgrüne Halbwahrheiten im Programm helfen nichtsPlädoyer für rückhaltlose Ehrlichkeit

Lehrerpaare mit einem Kind erheben ganz selbstverständlich den Anspruch auf einen kostenlosen Kindergartenplatz. Grüne PolitikerInnen müssen inzwischen auch mit einem Anspruchsdenken der eigenen Wählerklientel kämpfen, das sich mit der wirtschaftlichen und fiskalischen Krise der Bundesrepublik nicht verträgt. Große Teile von Bündnis 90/ Die Grünen haben das begriffen und rufen ihren WählerInnen zu: Ihr werdet verzichten müssen. Aber wir bieten euch dafür ein Modernisierungsprojekt, das den Zerfall der bundesdeutschen Gesellschaft aufhalten kann – den ökologischen und sozialen Umbau.

Das ist mehr Wahrheit, als die anderen Parteien ihrer Klientel zumuten. Doch relative Wahrheitsliebe wird im Wahljahr 1994 nicht genug sein, zumindest wenn es für die Bündnisgrünen zur Regierungsbeteiligung reicht. Wenn sie dann nämlich die Chance hätten, Teile ihrer Steuerpläne in der Regierung umsetzen zu können, drohen die Waigelschen Haushaltslöcher die zusätzlichen Einnahmen zu verschlucken. Die katastrophale Staatsverschuldung könnte die grünen Reformprojekte verschlucken.

Ein taugliches Regierungsprogramm der Grünen muß die Frage beantworten, wie mit dem Schuldenloch umzugehen ist. Kohl ablösen heißt eben auch Waigels Schulden übernehmen. Sich vor dieser Antwort drücken geht vor allem dann nicht, wenn man für das eigene Reformprojekt an die Solidarität der Mittelschichten und der Wohlhabenden appelliert. Diese Solidarität kann nicht mit einer Halblüge erkauft werden. Am Schluß bleibt vielleicht nur, die eigene Klientel noch härter anzugehen (Realo), die Reichen und Spekulanten zur Kasse bitten (Links) und das sozialdemokratische Verschwendungsmodell zusammenzustreichen. Das ist mit jedem Koalitionspartner ein schwieriges Unterfangen. Wer aber der Industrie die Ökosteuern an anderer Stelle weitgehend zurückgeben und dem kampfstarken Kern der Gewerkschaften die Reallöhne erhalten will, wird die Frage beantworten müssen, woher denn das Geld kommen soll für den Schuldendienst.

Keine Frage, der Umbau ist notwendig. Mehr Ökologie, eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Arbeit sind die Alternative zum Zerfall der bundedeutschen Gesellschaft. Doch erst wenn die grüne Programmdiskussion sich dem zu erwartenden Kohlschen Erbe stellt, erreicht grüne Politik die „Schlechtwettertauglichkeit“, die nach der Bundestagswahl vonnöten sein wird. Ein Blick nach Amerika gibt Hoffnung: Die Einführung einer solidarischeren Gesundheitspolitik steht dort vor der Tür, und der Steuersatz für die Wohlhabenden ist 1993 von 31 auf fast 40 Prozent gestiegen. Hermann-Josef Tenhagen

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