: Bülow-Platz: „Zwei Psychosen führen Krieg“/ Von Carl v. Ossietzky
■ Über SPD und KPD, Freiheitsrechte, Staatsgewalt und linksradikales Revolverheldentum: Dokumentation des Leitartikels der 'Weltbühne‘ zu den Bülow-Platz-Morden 1931
Am Sonntag, den 9. August, abends acht Uhr, sind am Berliner Bülow-Platz vor dem Lichtspieltheater „Babylon“ zwei Polizeioffiziere, die eine Streife führten, meuchlings ermordet worden; ein dritter erhielt eine schwere Verletzung. Als die Polizei das Feuer erwiderte, blieben ein paar Leute tot und verwundet liegen, Leute, von denen niemand weiß, ob es Kombattanten oder Passanten waren. Wir werden auch schwerlich jemals die Wahrheit erfahren, denn inzwischen ist das Bild dieser traurigen Vorgänge durch eine Kommunistenhetze verfälscht und verzerrt worden, wie wir sie seit langem nicht erlebt haben. Ja, alle innere Politik scheint in diesem Augenblick nur Kommunistenhetze zu sein und nicht mehr. Selbst bei denjenigen liberalen Blättern, die sich sonst ein gewisses Maß von Objektivität bewahren, auch wenn es sich um Linksradikale handelt, gelten die Behauptungen der Polizei als sakrosankt. Es gilt als erwiesen, daß die KPD die Meuchelmorde am Bülow- Platz gewünscht und planmäßig durchgeführt hat. Nirgends denkt man daran, die vom Polizeipräsidium ausgegebenen Berichte unter eine kritische Sonde zu nehmen. Nirgends erinnert man sich der blutigen Maitage von 1929, die bekanntlich mit wilden Aufruhrmeldungen begannen und mit einer ausgewachsenen Polizeiblamage endeten.
Auch die neue blutige Episode am Bülow-Platz gehört in das jammervolle Kapitel der Kämpfe zwischen den beiden Arbeiterparteien. Nicht Staat und Staatsfeinde sind es, die hier ringen, sondern Parteien, von denen die eine das Glück hat, als Staatsautorität verkleidet walten zu dürfen. Ich behaupte, daß dieser jahrelange Bürgerkrieg am Bülow-Platz unter einem halbwegs verständigen bürgerlichen Polizeipräsidenten unmöglich wäre. Dem wären die Kommunisten Hekuba; nur Sozialdemokraten, also Blutsverwandte, kennen diesen intimen Haß, dieses beißende Gelüst, die Abscheulichkeit, die Gemeingefährlichkeit der benachbarten Partei immer aufs Neue zu beweisen.
So ist der Bülow-Platz seit Jahr und Tag die klassische Berliner Arena erbitterter Partisanenkämpfe. Ein Stück Mittelalter tut sich mitten in der nüchternen Millionenstadt auf. Alexander-Platz gegen Bülow-Platz! Polizeipräsidium gegen kommunistische Parteizentrale! Seit Jahr und Tag wiederholt sich das: Eine Polizeistreife kommt über den Bülow-Platz; ein paar junge Burschen, mit Parteiabzeichen versehen, gehen vorüber. Die Polizisten sehen die jungen Leute scharf und mißtrauisch an, diese erwidern mit herausfordernden Blicken oder Grimassen. Ein böses Wort fällt, die Gummiknüppel fliegen, ein Schuß kracht, und nachher liegt ein Polizist oder ein junger Arbeiter starr und strack auf der Bahre. Nicht Polizei, nicht Rotfront soll hier bemakelt werden, das sei den Parteimenschen überlassen. Es soll nur in jene tragische Verstrickung hineingeleuchtet werden, die immer neue Todesopfer, immer neue Lahmgeschossene und Krummgeprügelte fordert. Es kommt nicht darauf an, wer den ersten Schuß abgefeuert hat, aber die Schüsse vom 9.August müssen die letzten gewesen sein.
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Wenn man in diesen Tagen über den Bülow-Platz kommt, so bietet sich ein Bild, wie man es in Berlin seit der Revolution nicht gesehen hat. Das Karl-Liebknecht- Haus, das kommunistische Parteihaus, ist geschlossen; ein weiter Umkreis ist gesperrt und darf überhaupt nicht betreten werden. Die Schupos gehen zu zweien und herrschen jeden an, der die Hände in der Tasche hält. „Hände raus!“, heißt es schon auf viele Meter Entfernung, von drohenden Gebärden illustriert. Die Schupos patrouillieren zu zweien mit ernsten, verbissenen Gesichtern. Man sieht ihnen an, wie sie der Tod ihrer Kameraden getroffen hat. Man sieht aber noch mehr: Sie fühlen sich in einem gefährlichen Dienst und noch immer an Leib und Leben bedroht. Sie fühlen sich nicht als Sicherheitspolizei, sondern als Soldaten. Sie wissen: Wenn sie eingesetzt werden, so bedeutet das Krieg.
Eine Polizeibeamten-Zeitung schrieb vor einiger Zeit klagend: „Leider ist es heute so, daß der im Dienst befindliche Polizeibeamte immer auf sich allein oder auf seine Kollegen angewiesen ist und nur sehr selten Hilfe und Unterstützung aus dem Publikum erhält, wenn er bedrängt wird.“ Diese Klage steht in einem Verbandsblatt, dessen republikanische Gesinnung nicht bezweifelt werden kann, wie denn überhaupt die preußische Polizei noch immer starke republikanische Bestandteile enthält. Desto bedauerlicher ist auch der unverkennbare Zwiespalt zwischen der Polizei und dem Publikum, besonders der Arbeiterschaft. Der Grund dafür ist in der ungewöhnlichen und nur selten motivierten Härte des köperlichen Zugriffs zu suchen, den die Polizei bei Auftritten, namentlich politischer Art, für nötig hält. Erste Phase: Rippenstoß, von Gebrüll begleitet, zweite Phase: Gummiknüppel, dritte Phase: Revolver. Das ist feststehender Ritus. Staatsbürgerliche Rechte und obrigkeitliche Auffassungen von Ruhe und Ordnung werden auch in stillern Zeiten oft kollidieren. Heute sind Millionen unter uns verzweifelt, weil sie nicht wissen, wovon sie am nächsten Tage leben sollen. Solche Stimmungen müssen sich notgedrungen in Einzelexzessen Luft machen. Auf beiden Seiten gibt es vieles zu rächen. Die Vendetta ist in manchen Gegenden schon zur normalen Verkehrsform geworden. Der Abend des 9.August am Bülow-Platz war für die Polizei gewiß tragisch. Aber ihre Maßnahmen seitdem tragen nicht zur Beruhigung bei, sondern sind nur geeignet, neue Racheinstinkte zu erwecken. Was inzwischen unter die Räder kommt, ist ja nicht viel: Es sind nur die verfassungsmäßigen Garantien persönlicher Freiheit. Der Deutsche ist leicht geneigt, auf solche Kleinigkeiten zu verzichten.
Der Vorwurf, der gegen die Kommunistische Partei zu erheben ist, liegt nicht in der Linie der von der bürgerlichen und sozialdemokratischen Presse erhobenen Anklagen. Der ärgste Fehler, den die Partei begeht, ist der, daß sie eine Revolutionsromantik nährt, für die kein realer Boden vorhanden ist. Die Führer leben nicht in diesem Deutschland mit seiner Geduld, mit seinem Beharrungsvermögen, sondern im vorletzten Stadium der Revolution, in der kurzen Etappe vor dem definitiven Sieg. Richtig ist ihre Diagnose, daß wir in höchst revolutionären Zuständen leben, aber sie verkennen darüber, daß die Menschen nicht revolutionär sind. Sie buchen jede gegen einen Schutzmann erhobene Arbeiterfaust als Plus im Revolutionskonto. Aber es geht ihnen nicht auf, daß es sich hier um individuelle Akte von Desperation handelt. Sie folgern aus einer Straßenschlägerei, daß „das Proletariat nicht mehr zu halten ist“, und ahnen nicht, wie schnell das leidenschaftliche Aufbegehren wieder in Passivität und Stumpfheit umschlägt. Sie leben in einer phantastischen Welt, halb russische, halb chinesische Revolution, und danach richten sie ihre Taktik ein. So fürchten sie immer, „die Massen zu verlieren“, so klemmen sie sich hinter den Nationalismus, aus Furcht, Hitler könnte ihnen Leute wegschnappen, so ziehen sie den blamablen Scheringer-Rummel auf, so drängen sie sich in den Volksentscheid, so suchen sie sich dem Faschismus anzugleichen, anstatt den entgegengesetzten Typus deutlich herauszubilden. So gewinnen sie vorübergehend versprengtes Bürgertum oder ein paar masochistische Intellektuelle, die selig sind, wenn sie ein kräftiger Funktionär anbrüllt. Nur den gewerkschaftlich organisierten Kern der Arbeiterklasse, den gewinnen sie nicht.
Ein getreuer Abklatsch dieser Romantik ist das Karl- Liebknecht-Haus am Bülow-Platz. Man denke sich ein modernes vielstöckiges Bureauhaus so aufgemacht, als wäre es eine verborgene Kellerhöhle, wo sich vermummte Verschwörer um Mitternacht treffen und in Geheimzeichen reden. Wer dieses Hauptquartier der deutschen Revolution betritt, der begibt sich damit in die ehrwürdige Sphäre des Detektivromans. Das ganze Haus ist in seiner Verwinkelung ein wahres Labyrinth. Es gibt Türen ohne Klinken, die mit einem Griff untern Tisch geöffnet werden. Aber diese ganze Inszenierung à la Edgar Wallace ist grotesk. Den meisten, die im Parteihaus arbeiteten, sieht man an, daß sie an einer Art von Belagertenpsychose kranken. Und das ist seit langem das Leiden der ganzen Partei. Sie wehrt sich gegen neue Ideen, sie bildet in ihrer Geistesenge das Musterbild eines Staates, in dem die Autarkie ausgebrochen ist. So kann einmal Deutschland aussehen, wenn die Apostel der „eignen Kraft“ sich durchsetzen sollten. An der Peripherie der Partei aber hat sich allerhand angesetzt, was nicht in eine Arbeiterpartei gehört. So gewiß die Auflösung von Rotfront daran schuld ist, daß sich ein höchst unerwünschtes Revolverheldentum eingenistet hat, so gewiß ist leider auch, daß die Partei bisher öffentlich nichts getan hat, um sich von einer besonders fatalen Spielart eines mißgeleiteten Aktivismus zu reinigen.
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Wer glaubt, sich mitten im Endkampf zu befinden, wird in der Wahl der Mittel nicht sehr heikel sein, wird leicht glauben, daß ein fester Stoß genügt, die Bastille des Kapitalismus zu werfen. Aber am Boden liegt nachher nicht der Kapitalismus, sondern ein armer Mensch mit Bauchschuß, ein armer Mensch, der mit Schmerzen verzuckt, ob er eine Uniform trägt oder ein Parteiabzeichen.
Es ist ein ungemütliches Schicksal, in einem Augenblick wie diesem zwischen den Parteien zu stehen. Es ist eine schwere Aufgabe, von Vernunft zu sprechen, wo die Träger der Unvernunft auf beiden Seiten geehrt und geachtet die Führung fest in der Hand halten. Wer mit der weißen Fahne auf die Straße geht, wo zwei Parteien streiten, braucht um Spott und Pferdeäpfel nicht verlegen zu sein. Soll aber dieser menschenfressende Krieg zwischen Bülow-Platz und Polizeipräsidium weitergehen? Jedes neue Opfer vergrößert nur den Leichenhügel zwischen den Arbeiterparteien ins Unübersteigbare. Es ist ein nutzloser Kampf ohne tiefere Realität! Zwei Psychosen führen Krieg miteinander, zwei überspitzte Thesen suchen eine leider sehr körperliche Auflösung.
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