Büchergaben für Kinder: Bund beteiligt sich nicht am Lesenüben
Fördert die Kleinen durch frühes Lesenüben, heißt das Mantra nach Pisa. Der Bund ist dafür nicht zuständig. Er fördert Analphabeten erst, wenn sie erwachsen sind.
Eine Woche lang gabs nichts anderes als Literatur. Die Schüler der Erfurter ersten und zweiten Klassen bekamen Geschichten vorgelesen. Oder beschrieben Bildergeschichten. Oder spielten den Plot eines Buches nach. "Wir verführen in dieser Woche die Kinder zum Lesen", sagt Karin Richter. "Da spielt das Rezitieren, Erzählen und Inszenieren von Literatur eine große Rolle."
Die Stunden leiteten StudentInnen der Erfurter Grundschulpädagogik. Die Lehrer schauten sich den Projektunterricht namens "Märchen, Mythen und fantastische Literatur" aus der letzten Reihe an. Und wunderten sich, was ihre Schüler hinterher so zu erzählen wissen. "Das Beste war, dass wir die ganze Woche kein Deutsch hatten", wusste Leo aus der zweiten Klasse.
Das Experiment, das Professorin Karin Richter seit einiger Zeit mit Studenten und Schülern wie dem vorlauten Leo macht, weist auf ein Paradox des Deutschunterrichts hin. Der kann so spannend sein, dass der kleine Schlauberger ihn gar nicht bemerkt. Aber er kann so langweilig sein, dass es kein Wunder ist, warum so viele Schüler aus den Pisatests als funktionale Analphabeten herauskommen. "Literaturvermittlung in der Schule übersieht oft die emotionalen Zugänge", sagt Frau Professorin. "Den Kindern muss das Lesen aber Spaß machen!"
So richtig klappt das nicht, da hat Karin Richter schon recht. Die jüngste Studie "Lesen in Deutschland 2008" hat gezeigt, dass weder Kindergärten noch Schulen und nicht einmal die Eltern verstanden haben, was Leseförderung heißt. Am verstörendsten ist vielleicht die Entwicklung des Vorlesens in den Kindergärten. Nur 38 Prozent der Jugendlichen sagten 2008, ihnen sei in der Kita vorgelesen worden. 1992 waren es noch 56 Prozent, im Jahr 2000 immerhin noch 43 Prozent! Das bedeutet, dass die Kitas gegen alle Glaubensbekenntnisse grob verstoßen. Die Erzieherinnen lesen seit der ersten Pisastudie nicht mehr vor - sondern weniger.
Die Stiftung Lesen hatte eine kleine Runde von Professoren, Schulbuchverlegern und Experten nach Darmstadt geladen, um die Studie zu diskutieren. Die versammelte Gutenbergkultur zerbrach sich den Kopf, wie man in Familie, Kita, Schule und anderswo das Lesen befördern könnte. Sie freute sich über die Lesefreude einer bildungsbeflissenen migrantischen Mittelschicht, die angeblich öfter zum Buch greift als ihre autochthonen Altersgenossen. Sie wunderte sich, wie die Buchautorin und Zeit-Redakteurin Susanne Gaschke, dass Computer und Internet über die "Schlaumäuse"-Aktion des IT-Giganten Microsoft in Windeseile die Schulen erobern - die Leseförderung aber nur zäh vorankommt.
Ganz fix hingegen war die Antwort auf die Vorsitzende des Deutschen Bibliotheksverbandes zu haben. Monika Ziller hatte ganz ketzerisch gefragt, "wieso die Schulbibliotheken ein total vernachlässigtes Thema in Deutschland sind. Dazu müsste mal eine Initiative ergriffen werden!", forderte Ziller. Sofort winkten alle ab: Das könne sie gleich vergessen! Dafür sei keine klar geregelte Zuständigkeit vorhanden. Alle sind für alles zuständig im deutschen Superbildungsföderalismus - aber für Bibliotheken garantiert keiner. Das ist eine der Geschichten, welche nur das deutsche Bildungssystem schreiben kann. Alle lamentieren über Risikoschüler und Jungs, die zu 40 Prozent stolz darauf sind, nie zum Buch zu greifen. Alle vergotten und überhöhen das Buch, aber allen ist auch sofort und vollkommen klar: In jede Schule eine Bibliothek - das ist absolut nicht machbar, weder finanziell noch organisatorisch.
Da präsentierte sich der alerte Bildungsstaatssekretär Andreas Storm (CDU) aus dem Berliner Bundesministerium als Retter in der Not. Storm flocht seiner Ministerin Schavan einen Kranz nach dem anderen. Er lobte die Initiative, 80.000 Erzieherinnen via Internetservice über Weiterbildungsmöglichkeiten zu informieren; er verkündete, auch Erzieherinnen seien neuerdings für das Aufstiegsstipendium des Meister-Bafög zugelassen. Das Programm deckt viele Berufe ab. Es hat insgesamt einen Umfang von 1.500 Plätzen für die gesamte Bundesrepublik - bei 230.000 Erzieherinnen. Eine Stiftung hat mal ausgerechnet, wie lange es dauern würde, bis alle Erzieherinnen Hochschulabschluss haben: 60 Jahre kam dabei heraus.
Die Stiftung Lesen freilich hält unverdrossen an ihrem Ziel fest, Kinder früh das Lesen näherzubringen. "Viele Eltern wissen nicht", sagte der Stiftungsgeschäftsführer Heinrich Kreibich, "Vorlesen ist die preiswerteste Investition in die Zukunft ihrer Kinder." Die Stiftung geht inzwischen andere Wege. In Form von Lesestartpaketen drückt sie allen Kindern bei der Reihenuntersuchung U6 eine handvoll Erstlesebücher in die Hand. 500.000 Pakete werden so ausgehändigt.
Als Bildungsstaatssekretär Storm gefragt wurde, ob sich das Ministerium daran beteilige, wusste er schlicht nicht, was Lesestart ist. "Wer geben kein Geld dafür", fügt er nach Referentenbefragung an, "es ist nicht Aufgabe des Bundes, so etwas flächendeckend anzubieten."
Und dann machte er gleich mit dem weiter, wofür er zuständig ist: Mit dem Analphabetismus bei Erwachsenen. Bildung - das ist eine Investition in die Zukunft. CHRISTIAN FÜLLER
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