Bücher zum digitalen Leben: Die Ausgänge im falschen Jetzt
Künstler Douglas Coupland legt „Berichte aus einer sich auflösenden Welt“ vor, Netztaktivist Geert Lovink sucht Wege aus dem „Digitalen Nihilismus“.
Alle müssen sterben, immer wieder und wieder. Der Tod ist der künstlerische Ausweg aus der Zumutung des Lebens als individueller Erfahrung und gesellschaftlicher Tatsache. Ob Senioren einer Endzeitsekte, die wild um sich schießen, oder ein alles vernichtendes Erdbeben: Leere und Langeweile verdichten sich in Douglas Couplands „Bit Rot“ unweigerlich auf diesen Punkt absoluter Gewalt.
Mit bitterer Schärfe blickt Coupland auf die Realität des digitalen Zeitalters in dieser Sammlung von Kolumnen und Kurzgeschichten, hervorragend übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Selbstoptimierung, Entfremdung, Überwachung, Sexualisierung und Geldschneiderei – nichts lässt Coupland aus und niemand bleibt am Leben. Mit Sarkasmus wird der Konsum seziert, die Abhängigkeiten, die Verlorenheit. Kein Klassenbewusstsein, keine Klasse, keine Hoffnung.
Insofern bleibt Coupland, der Anfang der 1990er den Terminus der Generation X ins öffentliche Bewusstsein rückte, sich treu. Der so oft als Aufstieg missverstandene Niedergang dieser zwischen Babyboomern und Millennials angesiedelten Alterskohorte erfährt seine unendliche Beschleunigung am Smartphone. Die viel beschworenen Werte sind auswechselbare Sprechblasen, Fassade nutzlosen und disparaten Lebens.
Hinreichend Abscheu zeigt Coupland für die Monetarisierung jeder menschlichen Entäußerung, noch selbst der präzisesten Kritik. Die Ironie daran, dass ausgerechnet die von ihm beschworene „Generation X“ als Marketingclaim reüssierte, ist ihm gewiss nicht entgangen.
Hartes Urteil
Die Entwurzelung als Modus Operandi des postmodernen Individuums muss mit kaltem, klarem Blick zwangsläufig zur Verachtung der Umstände seines Daseins führen. Seine Lächerlichkeit liegt bloß, und doch glaubt er, sich darin wohlzufühlen. Folgsam wird der Weg der erzwungenen Gemeinschaft in Gesellschaft all der anderen Deformierten genommen, immer auf der Suche nach einem Halt. Ungläubig schaut der Betrachter auf das Treiben und wird hart im Urteil: „Ich frage mich, ob die meisten Menschen überhaupt dafür geschaffen sind, mit dem geistigen Vakuum zurechtzukommen, das durch Freiheit entstehen kann.“
Coupland beschreibt sein Werk als Zufall. Dieses Versehen einer Autorenkarriere setzt er pflichtgemäß fort, auch neben seiner Arbeit als bildender Künstler. Und was er inzwischen hauptsächlich schreibt, sind Miniaturen, die jene Verweigerung der Freiheit partout nicht akzeptieren wollen. Coupland liebt ganz offensichtlich die Menschen, aber er hasst ihr Tun, ihre Unterwerfung unter das, was Geert Lovink in einem ebenfalls im vergangenen Jahr erschienenen Band „Digitalen Nihilismus“ nennt.
Der Medientheoretiker und Aktivist Lovink hat nicht den Luxus des Schriftstellers, einen Widerspruch einfach per Blutbad aufzulösen. Er muss in seiner Beschreibung der Zurichtung des Individuums nicht nach dessen Sollbruchstellen suchen, schließlich liegen die offen zutage. Der Weg dort heraus ist sein Thema. Der kritikwürdige Ist-Zustand dient der Illustration derjenigen Potenziale, die jenseits von Profitlogik und subtiler oder offener Herrschaft liegen.
Realität aufbrechen
Seit 25 Jahren gilt Lovink als Vordenker und Praktiker von Autonomie und Selbstermächtigung angesichts staatlicher und kommerzieller Übermacht. Meme-Kultur und Cybermobs beziehen sich, ob unbewusst oder wissentlich, unter anderem auf seine Theorie. Die Sabotage, die überraschende Intervention ist dabei kein Selbstzweck. Lovink ist nicht auf der Suche nach dem richtigen Leben im Falschen, sondern nach den Türen, die das falsche Jetzt trotz allem bereithält. Und er wirbt mit Nachdruck dafür, diese zu durchschreiten. Sein Band ist deshalb eine lohnende Rundschau über Ideen und Theorien, die er teils verwirft, teils positiv heranzieht. Er lässt dem Leser aber genug Freiraum, um zu eigenen Bewertungen zu kommen.
Douglas Coupland: „Bit Rot. Berichte aus der sich auflösenden Welt“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Blumenbar Verlag, Berlin 2019, 256 Seiten, 24 Euro
Geert Lovink: „Digitaler Nihilismus. Thesen zur dunklen Seite der Plattformen“, transcript Verlag, Bielefeld 2019, 242 Seiten, 24,99 Euro
Zu Überwindendes beschreibt Lovink mit eingängigen Formeln. Die Datenakkumulation der großen Plattformen nennt er „soziales Staubsaugen“. Ohne große Umstände formuliert Lovink ein Unbehagen und bietet Auswege, ohne dabei allzu moralinsauer vorwurfsvoll die individuelle Mediennutzung zu verdammen. Es geht ihm um die Bildung von Gemeinschaft, auch temporärer, um die Realität des Ausgeliefertseins zu durchbrechen und zu verändern – damit nicht am Ende alle immer sterben müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert