Bücher von Klaus Schlesinger, zweiter Teil: Erstarrung und Widerstand
Der Titel sagt schon alles. „Leben im Winter“ spielt im Ostberlin der 70er Jahre und handelt von gesellschaftlicher Starre, geistiger Enge und verdrängter Vergangenheit. Es lebt sich trotzdem ganz gut. Klaus Schlesinger erzählt von einer Geburtstagsfeier, zu der Verwandte aus Ost und West zusammen treffen. Als die Erzählung 1980 bei Fischer erschien, war Schlesinger gerade nach Westberlin übergesiedelt.
Es wird nicht so unbeschwert gefeiert, wie es den Anschein hat. Jeder trägt sein Päckchen, das er entweder verheimlichen oder unauffällig zur Sprache bringen will. Onkel Albert hat das Leben im Altenheim satt. Helgas Mann ist ausgezogen, Sohn Robert wird wohl von der Schule fliegen, weil er politisch unbequeme Fragen stellte. Dabei war ihm nur aufgefallen, dass auf Fotos im Geschichtsbuch Menschen neben Lenin wegretuschiert wurden.
Aus den sich überschneidenden Dialogen entsteht ein Porträt einer Kleinfamilie, das selbst in den komischen Momenten die Gefährlichkeit ihrer Mitläufermentalität nicht vergessen lässt. Bei Kaffee und Kuchen und Likör wird die „Lage“ diskutiert. Nebenan sind seltsame Leute, Künstler, eingezogen, die Polizei hat sich schon erkundigt, ob etwas aufgefallen sei. Den Westverwandten wird immer angst und bange, wenn sie Illustrierte schmuggeln. Die Nachbarin buhlt mit einem angeheirateten Schwager. Das nervt die Oma, die den allen Gästen peinlichen Vorgang als einzige anspricht. „Mama“, sagt das Geburtstagskind Helga zu ihrer greisen Mutter Martha, „wir wollen uns doch heute nicht streiten.“ Darauf erwidert Martha, „dass keiner hier die Wahrheit vertragen kann“, und meint damit nicht nur die konkrete Situation, sondern die ganze DDR. Schlesingers präziser Blick auf die Alltagswelt der DDR wird es gewesen sein, weshalb seine Erzählung dort nicht erscheinen durfte: Die Beschreibung der Träume und Sorgen des sozialistischen Kleinbürgers, des Baufälligen, des DDR-typischen Auseinanderfallens von Ideologie und Wirklichkeit aus der Sicht der so genannten kleinen Leute.
Der alte Onkel Albert bringt in der Erzählung schließlich den Stein ins Rollen, als die trinkfreudige Runde auf alte Zeiten zu sprechen kommt. Denn die Wohnung, in der man gemütlich zusammensitzt, gehörte Juden, die deportiert wurden. Man hat sich zwar nichts zu Schulden kommen lassen, die Gelegenheit aber genutzt und ist in die freie große Wohnung gezogen. „So ein Glück hat man nur einmal im Leben“.
Vom angespannten Wohnungsmarkt ist auch in Schlesingers Buch „Matulla und Busch“ zu lesen. Nur spielt die Geschichte jetzt, Mitte der 80er Jahre, im alten Westberlin. Dahin verschlägt es zwei alte Männer aus dem Schwäbischen, denn Herr Matulla hat ein Haus in SO 36 geerbt. Sein Zimmergenosse Busch begleitet ihn auf der Odyssee ins ferne Westberlin. So trampen die alten Knacker zum ersten Mal in ihrem Leben. Und staunen: das Erbe in der Waldemarstraße entpuppt sich als ein von jungen Leuten besetztes Haus.
Schlesingers Sehnsucht nach der Sozialutopie vom Zusammenleben verschiedener Generationen, vom gemeinsamen Kampf gegen den Abriss eines alten Hauses lässt das alte Westberlin wieder auferstehen. Der 129er Bus hieß noch 29er. Im Gegensatz zu heute waren viele Häuser besetzt, Demonstrationen gegen Räumungen an der Tagesordnung und „Maximalrandale“ in aller Munde. Matulla ist aber nur einer von drei Erben, die anderen sind sich mit den Rechtsanwalt längst einig. Weil es beim Neubau mehr Fördermittel gibt, soll das alte Haus ganz verschwinden. Das tut nicht nur den alten Herren in der Seele weh. Langsam, aber sicher freunden sie sich mit den Jungen an, hausen mit ihnen unter einem Dach.
Matulla hat ein gutes Herz, will die jungen Leute in seinem Haus wohnen lassen und es selbst sanieren. Doch liest er einen Gerichtsbrief nicht und eine entscheidende Frist läuft ab. Die Polizei räumt das Haus. Wenig später löst es sich mit lautem Knall in viel Staub auf. „Sieben Generationen haben darin gelebt“, sinniert Matulla tief erschüttert. Das „Schweinesystem“ hat gesiegt. ANDREAS HERGETH
Klaus Schlesinger, „Leben im Winter“ (109 S.), „Matulla und Busch“ (143 S.), Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin, jeweils 12,90 DM (6,60 €)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen