Bücher für Kinder: Lesen schenken
Die Hälfte der Kinder bekam nie ein Buch geschenkt. Höchste Zeit, das zu ändern
Besonders ein Ergebnis der gerade veröffentlichten Studie "Lesen in Deutschland 2008," das verstört: 45 Prozent der befragten Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren gaben an, als Kind nie ein Buch geschenkt bekommen zu haben. Für die seit acht Jahren umfangreichste Lesestudie hatte die Stiftung Lesen über 2.500 Jugendliche und Erwachsene befragt. Warum fast die Hälfte aller Befragten als Kind nie mit einem Buch beschenkt wurde, darüber gibt es nur Mutmaßungen. Ein Buch als Geschenk scheint Erwachsenen kein Garant für glückliche Kinder zu sein. Vielleicht ist es auch der Unwille, Kinder noch außerhalb der Schule mit "Bildung" zu konfrontieren. Oder sind Kinderbücher schlicht zu teuer? Wohl kaum: Der Kinderbuchbereich ist ein Billiglohnsektor. Kinderbücher müssen billig sein, sonst kaufe sie keiner, erklären die Kinderbuchverlage. Eine Anschlussstudie, die das Ergebnis weiter erhellen soll, ist in Vorbereitung. Falls aber die unüberschaubare Menge an jährlichen Neuerscheinungen im Kinder- und Jugendliteraturbereich schuld daran sein sollte, dass Erwachsene den Kinderbuchkauf meiden, können wir Abhilfe schaffen: Pünktlich zum Last-Minute-Weihnachtseinkauf stellen wir Ihnen ein paar der empfehlenswertesten Bücher des Jahres für alle Altersgruppen vor.
Bunter Hund wird Gecko
Mitte des Jahres stellte der Beltz-Verlag nach 27 Jahren die einzige Literaturzeitschrift für Kinder Der bunte Hund ein. Die einzige? Nein, denn seit Oktober 2007 gibt es Gecko, ein Geschichtenmagazin für jüngere Kinder zwischen 3 und 7 Jahren. Wie ein kleiner Bilderbuchsammelband enthält jedes Heft drei vollseitig illustrierte Kurzgeschichten. Von bekannten Autoren und Illustratoren ebenso wie von Neulingen. Lustige und unkomplizierte Erzählungen herrschen vor, die Bebilderungen wagen sich zum Teil an besondere Techniken und Perspektiven heran.
Dazu kommen in jeder Ausgabe ein Littelbit-Gedicht von Ritter-Rost-Erfinder Jörg Hilbert, eine Comicgeschichte vom Philosofisch, gezeichnet von Ulf K. zu Texten von Martin Baltscheit, Wortsport von Stefanie Duckstein und ein Buchstabenbild mit alliterierendem Vers von Daniela Kulot, die erwiesenermaßen ein Händchen fürs Komische hat: "Gans Gabi gurgelt glücklich glucksend grasgrüne Grütze." Dazu gibts Lesetipps und gelungene Bastelanleitungen. Was aber das Beste ist, ob Kleinkind oder Schulanfänger: Die Kinder lieben es! Gecko erscheint 6 Mal im Jahr und hat sich das hehre Ziel gesetzt, ganz ohne Werbung auszukommen. Hoffen wir das Beste für dieses Kleinod und verschenken das Geschenkabo zu Weihnachten. Unter www.gecko-kinderzeitschrift.de kann man die bisher erschienen Ausgaben durchblättern und bestellen.
Indianerworte
Zu Neumond bringt Blühende Tanne einen Sohn zur Welt. Als Großmutter Goldenes Licht das Neugeborene in eiskaltem Wasser wäscht, schreit es nicht. Ein Zeichen für besondere Tapferkeit ist das nicht. Als das Kind nach 15 Tagen die Augen öffnet, blicken die Crow-Indianer in weiße Augäpfel: Das Kind ist blind. Obwohl es eine Belastung für die Gemeinschaft werden könnte, beharrt Blühende Tanne darauf, ihren Sohn großzuziehen: "Ich werde seine Augen sein."
Mit den Fingern zeichnet sie ihm die Umgebung auf die Brust, flüstert ihm mit Worten alles Wissenswerte über das Leben des Indianerstammes ein, der während des Winters in der Prärie lebt und den Rest des Jahres in den Bergen verbringt. Schon bald erweist sich der blinde Junge, der den Namen Wolkenauge erhält, als besonders begabt: Er hört und spürt Gefahren lange vor allen anderen.
Als die ersten Weißen auftauchen, ganze Bisonherden massakrieren und Unmengen von Bäumen abholzen, ist das natürliche Gleichgewicht der Crow bedroht. Doch Wolkenauge erkennt, dass nicht der Besitz der Blitze spuckenden Waffen die Welt der Indianer retten könnte, sondern die schnellen Tiere, die die "weißen Todbringer" mitgebracht haben: die Pferde.
Spannend erzählt der spanische Autor Ricardo Gómez vom Leben, von der Mythologie und der Geschichte der Crow-Indianer, mit denen er sich ausgiebig beschäftigt hat. Der Übersetzerin Katharina Diestelmeier gelingt es, Gómez rhythmischen Erzählton ins Deutsche zu übertragen. Wie Wolkenauge durch die Worte seiner Mutter die Welt erspüren lernt, so erschließt sich auch dem Leser das Leben in und mit der Natur, die die Indianer mit großer Achtung behandeln. Die Vignetten des ab- und zunehmenden Mondes über jedem Kapitel geben dem Erzählfluss eine zyklische Dimension. Leseeinsteigern und Vorlesern kommen die kurzen, in sich abgerundeten Kapitel sowie die freundlichen Schwarzweißillustrationen von Jésús Gában entgegen.
RICARDO GÓMEZ: "Wolkenauge". Aus dem Spanischen von Katharina Diestelmeier. Ravensburger Verlag 2008. 9,95 Euro. Ab 8 Jahren.
Planet Eiche
"Wie schnäuzt man eigentlich Larven?", fragt ein Schüler. Rund um einen Baum sitzend wartet die Klasse 4b gespannt auf eine Antwort. Beim 8. Internationalen Literaturfestival in Berlin hat ihnen der französischen Kinderbuchautor Timothée de Fombelle aus seinem bemerkenswerten Erstlingswerk "Tobie Lolness" vorgelesen. Es ist ein ganz eigener Kosmos, den de Fombelle rund um eine Zivilisation von circa 1,5 Millimeter großen Minimenschen erfunden hat. Diese leben auf einer uralten Eiche, zunächst wie im Paradies. Doch das Böse in Form des gewinnsüchtigen Rüsselkäferzüchters Jon Mitch und die Angst vor seinen Schergen machen die Menschen zu Duckmäusern und Verrätern. Dass sie für Mitch ihre eigene Umwelt zerstören, weil der Baum in Wirklichkeit lebt, versteht bisher nur das Allroundgenie Sam Lolness. Dieser verschwindet allerdings zusammen mit seiner Frau schnell in Jo Mitchs Kerkern. Nur Sohn Tobie kann fliehen, um für Rettung und das Gute zu sorgen.
Obwohl aus bekannten Zutaten wie Macht, Intrigen, Freundschaft und Liebe zusammengesetzt, ist de Fombelles Geschichte äußerst originell und sehr gekonnt erzählt. Die Handlung verästelt sich, birgt Überraschungen und läuft an brisanten Stellen wieder zusammen. Viele Details verleihen der Baumwelt große Plastizität. Die Bebilderung von François Place passt wunderbar in diesen zwischen Wirklichkeit und Fantasie lavierenden Abenteuerroman. Der gerade erschienene zweite Band führt die Geschichte um Tobie Lolness ereignisreich zu einem guten Ende. Wie aber schnäuzt man denn nun Larven? "Mit Fantasie!", antwortet de Fombelle. Davon wimmeln seine Bücher, die in eine fantastische Welt entführen und dabei ökologisches und soziales Bewusstsein stärken.
TIMOTHÉE DE FOMBELLE: "Tobie Lolness". Band 1: "Ein Leben in der Schwebe". Band 2: "Die Augen von Elisha". Mit Bildern von François Place. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Sabine Gerbing. Gerstenberg Verlag, jeweils 15,90 Euro. Ab 11 Jahren
Die wilden 1890er
Das ist starker Tobak für ein Jugendbuch: Adrian ist ein 16-jähriger Junge, der in den 1890er-Jahren des viktorianischen London als Ladenjunge sein ödes Dasein fristet. Bis ihm der Kunstmaler Augustus Trops ein eindeutig zweideutiges Angebot macht. Der gossengestählte Junge denkt nicht daran, es anzunehmen. Aber als er einige Tage später vom Chef vor die Tür gesetzt wird, landet er ausgehungert in Trops Bett, im Kreis um Oscar Wilde sowie in den Räumen der Little College Street, einer Stricherabsteige.
Die bange Frage, ob das in einem Jugendroman funktionieren kann, von Prostitution zu erzählen, zumal von männlicher, wird in "Ich, Adrian Mayfield" zunächst vom spannenden Fluss der Erzählung hinweggewischt. Die niederländische Autorin Floortje Zwigtman orientiert sich am dramatischen Auf und Ab der Dickens-Romane, passt ihren federnden Stil aber dem Ich-Erzähler Adrian an. Und gestaltet plastische Charaktere, deren Schicksalen man folgen will.
Vor allem dem von Adrian, der nebenbei sein Coming-out, die erste große Liebe und andere Krisen erlebt. Wenn man vor Hunger nicht mehr schlafen kann, ist auch Sex gegen Geld eine Möglichkeit. Zwigtman deutet zwar die Schattenseiten an, erspart ihrem Helden aber ein allzu hartes Erwachen. Explizit erotisch wirds erst mit dem Traumprinzen - ein kluger Schachzug. So ist "Ich, Adrian Mayfield", der erste Teil der Trilogie "Die grüne Blume", immer auch Entwicklungs- und Bildungsroman. Er führt geschickt ein in diese fremde Welt zwischen Armut und Verschwendung, Dekadenz und Doppelmoral. Und heran an Oscar Wildes Märchen oder die Geschichten Edgar Allen Poes. Eine vorrangig weibliche Fangemeinde fiebert bereits dem Erscheinen von Band 2 entgegen. GEORG KASCH
Floortje Zwigtman: "Ich, Adrian Mayfield". Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag 2008, 16,90 Euro. Ab 15 Jahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!