■ Buchtip: ON THE RUN
„Graffiti ist einfach eine sehr egoistische Kunst. Die meisten machen es nur, um sich selbst zu bestätigen, um etwas zu werden, um einen Namen zu kriegen in dieser Szene.“ODEM, einst ein ganz Großer der Berliner Graffiti-Szene, packt aus. Ehrlich, ohne Beschönigung und rücksichtslos gegen sich selbst hat er dem Journalisten Jürgen Deppe seine Lebensgeschichte erzählt. Es ist ein atemloser Bericht über die Berliner Großstadtjugend zu Beginn der neunziger Jahre, eine Chronik der Jahre 1988 bis 1994. Das war die Zeit, als Jugendgangs wie die „Giants“, „Black Panther“, „Reuters“ und die „36 Boys“ die Schlagzeilen eroberten, sich die Erwachsenen ein weiteres Mal fragten: Was ist bloß mit dieser Jugend los?“ und die Polizei und Sozialarbeit Sonderkommissionen und Sonderprojekte zur Bekämpfung der Jugendgewalt gründeten.
ODEM und sein Chronist verzichten in „On the Run“ auf soziologische Reflexionen. Wie alles anfing? – Ganz einfach: „Alles ödete mich an. Ich war 13 und wußte mit mir nichts anzufangen. Irgendwas mußte passieren. Möglichst bald. Bumm ... Tschak.“ Das war 1988, und wie ODEM ging es Hunderten von Jugendlichen in Berlin. Mit einer Eruption an Energie, Phantasie und schlichter Chuzpe eroberten sie sich die Stadt – mit der Sprühdose, mit Randale und der HipHop-Kultur. Was als grenzenloser Spaß und Action begann, mündete bald in Gewalt, (organisierter) Kriminalität, Alkohol und Drogen. Zunächst ermöglichte die Szene dem kroatischen Jugendlichen einen rasanten Aufstieg von einer Neuköllner Lokalgröße zum international anerkannten Graffiti-Star. Natürlich hatten auch Hochglanzmagazine und Ausstellungsmacher den King der Sprüher entdeckt. Dann, in den neunziger Jahren, der jähe Fall des Stars, den die Graffiti-Szene nach einem tödlichen Unfall eines Freundes beim S-Bahn-Surfen nur noch anödet. ODEM wird zum Graffiti-Junkie auf Entzug, zum Süchtigen auf der Suche nach einer neuen Droge.
„On the Run“ ist kein Buch, das bei Erwachsenen um Verständnis für eine Jugend buhlt, die manchesmal ein wenig über die Stränge schlägt, aber ansonsten lieb und nett ist. Sicherlich, die Szene ist kreativ und hat einen wichtigen Beitrag zur Geschichte subkultureller Zeichensprachen geliefert. Aber sie ist auch das, was Ordnungspolitiker immer von ihr behauptet haben: kriminell und stets bereit, die Grenzen der Selbstjustiz und Illegalität auszuweiten, wenn ihr kein Widerstand entgegengesetzt wird. Die aktive Graffiti-Szene hat bereits ihren Widerstand gegen „ODEM: On the Run“ angekündigt. Sie muß das Buch als Verrat empfinden, als Verstoß gegen das ungeschriebene Gesetz der Szene, über ihre internen Strukturen Stillschweigen zu bewahren. Eberhard Seidel-Pielen
„ODEM: On the Run. Eine Jugend in der Graffiti-Szene“. Aufgeschrieben von Jürgen Deppe. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, 317 Seiten, ca. 50 farbige Abbildungen, 29,90 DM, Berlin 1997
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