die woche in berlin
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Buchläden bleiben trotz Lockdown offen – und machen gute Geschäfte. Müssen Prioritäten gesetzt werden, wie bei den Corona-Impfungen, bleiben stets Gründe zum Nörgeln. Und Silvester gab es an diesem Jahreswechsel in Berlin einen etwas anderen Ausnahmezustand.

Lesen ist ansteckend

Offene Buchhandlungen als geistige Tankstellen

Noch im ersten Lockdown hatten die Eindämmungsverordnungen der Länder ein paar seltsame Blüten getrieben. Eine davon war das Verbot, sich allein auf einer Parkbank niederzulassen und ein Buch zu lesen. Joggen und spazieren waren dagegen erlaubt. Man wusste damals noch nicht viel über das Virus. Vielleicht hat ja wer gedacht, Lesen sei ansteckend.

Heute, einen leichten und einen richtigen zweiten Lockdown später, wissen wir: Ja, Lesen ist ansteckend. Und das ist eine gute Nachricht. Es scheint, als würden in Coronazeiten tatsächlich mehr Menschen zum Buch greifen, anstatt auf das Tablet oder das Smartphone zu schauen. Luft holen, tief eintauchen,, langsam ausatmen und wieder auftauchen: Manch einer wird vielleicht erst in diesem Frühjahr oder Sommer wiederentdeckt haben, was für ein Moment es ist, ein Buch zu Ende gelesen zu haben und ihm nachzuhorchen. Berlins Kultursenator hat dafür ein Zitat von Altkanzler Helmut Schmidt bemüht: Buchhandlungen, so Klaus Lederer, seien „geistige Tankstellen“ und die müssten, wie die für Autos, während der Lockdowns geöffnet bleiben.

Natürlich brachte das auch Neider hervor. Warum dürfen Buchläden offen bleiben, Blumenläden aber nicht? Wenn die Leute lesen wollen, können sie doch auch online bestellen? Muss ja nicht gleich bei Amazon sein, auch die kleine Kiezbuchhandlung um die Ecke hat ihr Onlineformular, mit dem man sich das Buch portofrei zur Abholung bestellen kann.

Das stimmt, und doch wieder stimmt es nicht. Anders als die Buchportale im Netz sind Buchläden auch Orte der Anregung; man kann sich in ihnen einen Überblick über die Neuerscheinungen verschaffen, kann stöbern und hineinlesen und sich auch fachkundig beraten lassen. Wenn vom neuen Leseboom, so er denn noch statistisch bestätigt wird und sich verstetigt, nicht nur Amazon profitieren soll, braucht es offene Buchläden.

Klaus Lederer gebührt also Dank – zumal sich im zweiten Lockdown auch Brandenburg dem Berliner Sonderweg angeschlossen hat. Die Buchhändler und Buchhändlerinnen haben die Chance ergriffen und konnten sich über ein gutes Weihnachtsgeschäft freuen.

Was tut es da zur Sache, dass nicht jeder das Augenschmunzeln bei den „geistigen Tankstellen“ mitbekommen hat. Völlig humorfrei schreibt eine linke Buchhandlung in der Kastanienallee auf ihrer Website: „Während Treibstoff dazu dient, die allgemeine Raserei am Laufen zu halten, ist unsere Handelsware, das Buch, dazu gänzlich ungeeignet. Es tötet weder herumlaufende Tiere noch FußgängerInnen und verursacht auch keinen gefährlichen Feinstaub.“

Offen war sie im Advent trotzdem.

Uwe Rada

Die Alten zuerst

Bei der Impfreihenfolge können sich die Jüngeren in Geduld üben

Zu den ersten Menschen, die seit Anfang dieser Woche gegen das Coronavirus geimpft werden, gehören die über 80-Jährigen: weil sie besonders gefährdet sind.

Die erste Berlinerin, die sich gegen das Coronavirus impfen ließ, heißt Gertrud Haase. Sie habe lange überlegt, welche Bluse sie zu dem Termin anziehen soll, damit sie ohne Probleme den Oberarm frei bekomme, sagte die 101-Jährige: bloß keine Umstände machen.

Nun überlegen manche Jüngere, ob es okay ist, dass die Alten zuerst geimpft werden. Sie rechnen es auf mit der wahrscheinlichen Rest-Lebenszeit. Geht’s noch?

Es ist klar, dass bei jeder Art von Priorisierung Graustufen verlorengehen, die es in der Gesellschaft gibt: Es gibt junge Leute, die wegen einer Autoimmunerkrankung, einer Behinderung oder anderer Faktoren Risikopatient:innen sind. Und es gibt Menschen, die schneller geimpft werden sollten, weil sie eine Nähe zu Risikopatient:innen haben. Dazu gehören Lehrer:innen, die in einer Schule für Behinderte unterrichten, Eltern von Autoimmunerkrankten und Mitarbeiter:innen in Pflegeheimen. Diese zählen konsequenterweise zu den Ersten, die geimpft werden. Und schon sind wir wieder bei den Graustufen: Diese Mitarbeiter:innen sind teilweise jung, teilweise aber auch selbst schon Rentner:innen, die wegen der Corona­krise in den Beruf zurückgekehrt sind. Das gilt es anzuerkennen – gerade nachdem für sie zwar geklatscht wurde, eine finanzielle Anerkennung aber nicht spürbar ist. Diese Menschen sind wegen ihres Berufs oft mit dem Tod konfrontiert. Das verschärft sich durch die Pandemie. Die Situation ist angespannt.

Natürlich stecken junge Menschen gerade viel zurück, die meisten sind wegen Corona besonders vorsichtig. Aber die Alten sind es auch.

Überlegt man sich die Alternativen, damit die Jungen nicht klagen, sieht es mau aus. Sollten etwa die Jungen zuerst geimpft werden? Die Intensivbetten und das Pflegepersonal blieben auf unabsehbare Zeit überlastet. Sollte man die Reihenfolge verlosen? Die Impflogistik ist sowieso überlastet, der Impfstart in Oberfranken musste deshalb verschoben werden. Oder man wartet einfach etwas ab, bis man selbst dran ist mit Impfen – und übt sich im Teetrinken. Eine gute Übung für das Alter. Nicole Opitz

Oder man wartet einfach etwas ab, bis man selbst dran ist mit Impfen – eine gute Übung für das Alter

Nicole Opitzzur Debatte um die Impfreihenfolge

Ausnahme-
zustand an Silvester

Der Jahreswechsel blieb trotz vieler Warnungen ruhig

Von dem „Wahnsinn“, den Polizeigewerkschafter Norbert Cioma (GdP) vor Silvester mit Blick auf angeblich unkontrollierbare 56 Böllerverbotszonen prophezeit hatte, war wenig zu sehen: Silvester in Berlin war deutlich ruhiger als sonst. Die Straßen der Hauptstadt waren in der Nacht und auch am Neujahrsmorgen verhältnismäßig leer. Und das gilt sowohl für Menschenansammlungen als auch für den Pyro-Müll, der sonst die Straßen wochenlang mit bräunlichem und stinkendem Schwefelmatsch übersät.

Das Unfallklinikum Berlin hatte am Neujahrsmorgen lediglich 10 schwerverletzte Sprengstoffopfer in der Handchirurgie zu verarzten – im vergangenen Jahr waren es 53 gewesen.

Auch Polizei und Feuerwehr sprachen von einem verhältnismäßig ruhigen Jahreswechsel. Zwar habe es erneut Angriffe auf Einsatzkräfte gegeben – aber alles in deutlich geringerem Umfang als sonst. Hinzu kamen vereinzelte Verstöße gegen die Kontaktbeschränkungen sowie das pandemische Alkoholverkaufsverbot. Aber die schlimmsten Meldungen am Neujahrsmorgen kamen aus Peripherie und Provinz: In Berlin-Buckow ist ein Supermarkt abgebrannt und im Brandenburger Landkreis Oder-Spree hat sich ein 24-Jähriger offenbar mit selbst gebautem Sprengstoff getötet.

Für ein ruhiges Silvester in Berlin braucht es also nichts weniger als 56 Böllerverbotszonen, Pyro- und Alkoholprohibition sowie einen Lockdown und Kontaktbeschränkungen während einer Pandemie. Kolleg:innen und Bekannte berichteten sogar von seelenruhigem Schlaf ab 23 Uhr im Herzen von Kreuzberg und Neukölln. Jemand, der sonst niemals nach 0 Uhr auf die Straße gehen würde, sagte: Silvester war in diesem Jahr nur gefährlich und nicht sehr gefährlich.

Der überwiegende Teil der Be­woh­ner:innen hielt sich laut Polizei an Kontakt- und Böllerverbote. Die Menschheit, sogar die in Berlin, ist also doch nicht so schlecht, wie der Polizeigewerkschafter Norbert Cioma (GdP) noch vor Silvester befürchtet hatte: „Wir müssen davon ausgehen, dass wir an Silvester auf den Straßen auf weniger Zuspruch treffen, sich zahlreiche alkoholisierte Menschen in Gruppen versammeln und sich angestauter Frust und Unverständnis über politische Entscheidungen in Angriffen auf Polizei und Feuerwehr entlädt“, nostradamuste der Gewerkschafter zwei Tage vor dem Jahreswechsel. Demgegenüber bestätigte die Polizei am Neujahrsmorgen, dass sich die Mehrheit der Berliner:innen an die Regeln gehalten hätte. So wichtig ist das Geböller während der Pandemie dann also doch nicht.

Erkenntnisse oder Regeln für das nächste Jahr lassen sich daraus allerdings nicht ableiten: Die 56 Böllerverbotszonen gab es nur aufgrund des Lockdowns. Im nächsten Jahr wird vermutlich bei deutlich weniger Verbotszonen wieder mehr geböllert und heftiger gefeiert werden. Nächstes Jahr dann also wieder normaler Ausnahmezustand. Gareth Joswig