Buch zur Entwicklung des Gerichtschauspiels: Vom Gericht zum Tribunal?

Das Gericht ist auch ein Theater. Und Bühne, um das Trauma des Rechtsbruchs zu bewältigen. Cornelia Visman untersucht, was Fernsehen und Videoüberwachung damit machen.

Die Nürnberger Prozesse wurden ebenso gefilmt wie der Eichmann-Prozess und sollten der Reedukation dienen. Bild: dapd

Wie lässt sich eine Unschuldsvermutung aufrechterhalten, wenn Liveberichte auf allen Sendern suggerieren, jemand sei schuldig? Wie steht es um den Opferschutz, wenn Mikrofone und Kameras mitlaufen? Wer urteilt, wenn das Fernsehen dem Publikum die Tat präsentiert, und wer darf noch schweigen, wenn das Getöse der Medien regiert? Braucht es noch eine mündliche Verhandlung, wenn wir auf dem Überwachungsvideo vom U-Bahnhof längst gesehen haben, wer es war und was geschah? Was sind gerichtliche Verfahren noch in Zeiten des Internets? Diese Fragen haben viele gerade in den letzten Wochen beschäftigt. Da ist dann vom Schauprozess die Rede, da sollen die Kameras den Saal verlassen, die Aufnahmegeräte verschwinden, "die Medien" zensiert werden. Wer nicht in diesen Mustern gefangen bleiben möchte, lese ein wunderbares neues Buch, je nach Neugierde ein Buch über Gerichte oder über das Theater, über Heinrich von Kleist oder Handke, über Tribunale und "transformative justice", über "Zeugin der Anklage" oder "Richterin Salesch".

Das Buch stammt von der Juristin Cornelia Vismann, bis zu ihrem Tod 2010 als Kulturwissenschaftlerin in Weimar tätig. Sie zeigt hier nicht nur, wie viel es zu entdecken gibt, wenn wirklich nach dem Recht - und nicht nur pauschal nach "den Medien" - gefragt wird. Sie zeigt auch, wie groß die Herausforderung ist, die sich mit den Medien der Rechtsprechung stellt. Wenn die Entwicklung läuft, wie Vismann es beschreibt, dann erleben wir bald nur noch Tribunale. Und dann werden wir das Theater vermissen, das das Gericht zumindest immer auch war und noch ist. Der Wechsel der Medien verändert die Anforderungen an alle am Gericht Beteiligten, vom Richter bis zur Amtsmeisterin im Saal, von der Anwaltschaft bis zu den Justizministerien. Vismann zeigt uns, was mit dem Gericht geschieht, wenn es keine Akten mehr gibt, weil die Bilder für sich sprechen, wenn wir nicht mehr wissen, was Richterinnen und Richter zu einer Entscheidung bewog, weil alles zugleich für alle im Livestream sichtbar war und das allgemeine Publikum urteilt.

Das Fernsehen macht das Gericht zum Tribunal

Was aber sind Gerichte eigentlich genau? Wie sind die Formen entstanden, und wie verstehen wir die Formen, in denen das Recht sich im Fall des Falles präsentiert? Das Kernargument von Vismann lautet: Das Gericht ist Theater und wird durch den Einsatz des Fernsehens zum Tribunal, aber dem Gericht als Theater wohnt mit der Mischung der Medien, die da zum Einsatz kommen, schon immer ein wenig Tribunal inne. Also steht die richtige Mischung zur Diskussion und wurde auch schon immer diskutiert. Oberflächlich steht dann Öffentlichkeit gegen Prozessautonomie; heute gehe es jedoch darum, ob die technologischen Medien entscheidend werden, den Gerichten also das Entscheiden aus der Hand nehmen dürfen.

Wer das für abstrakten Unfug hält, kann sich der medientechnologischen Perspektive auf Recht auch auf Umwegen nähern: Vismann hat schon mit ihrer Studie zu den "Akten" (Fischer Verlag, 2000) gezeigt, dass es keineswegs banal ist, nach den Gegenständen zu fragen, die Recht tatsächlich prägen. Für die Verwaltung ist es der Leitz-Ordner. Für die Gerichte ist es der Tisch in Gerichtssälen; am Tisch entscheidet sich, was Sachverhalt ist, also auf den Tisch kommt, und was nicht zählt, also unter den Tisch fällt, und die Position des Tisches entscheidet, wer welche Rolle spielt.

Für die Verwaltung war die Karteikarte wichtig. Im Gericht ist es zunächst nur die Akte, dann die protokollierte Stimme in der Akte und heute auch das Mikrofon, der Lautsprecher oder Kopfhörer, die Übersetzungsanlage, die in den Nürnberger Prozessen erstmals zum justiziellen Einsatz kam und den Monitor (damals ein Mensch, heute programmierte Maschine) zum Richter machte. Diese Technik war nicht nur Hilfsmittel, sondern erlaubte es damals Göring und in Den Haag Milosevic, die Medien für sich zu nutzen: Göring sprach unübersetzbar, Milosevic sprach 136 Stunden und klagte, das Gericht habe alle Instrumente der Macht und er verfüge nur über eine Telefonzelle. Was machen die Medien also mit dem Recht?

Es geht um Akten, die Stimme, unmittelbare Präsenz, Fotos, Fernsehen und Livestreams im Internet und um "remote judging". Sie alle sind zu Zeiten mehr oder minder wichtig, und Vismann präsentiert dazu schöne Fundstücke. Die Stimme steht zwischen Akte und Anlage und magnetisiert nicht nur vor Gericht, sondern prägt bis heute unsere Vorstellung von Öffentlichkeit und damit auch von Demokratie. "Voice", eine Stimme haben, am Diskurs teilnehmen dürfen, mit abstimmen dürfen - die Stimme scheint entscheidend, und deshalb träumen wir von Debatten der res publica auf Marktplätzen oder, je nachdem, auf einem Bahnhofsvorplatz. Agoreiozentrismus sei das, so Vismann, ein Glaube an die Kraft der Agora, des Forums. Was geschieht aber, wenn die Stimme medial gestärkt und übertragen wird? Vismann zeigt in feinsinnigen Beschreibungen, dass ein Verfahren, in dem die Präsenz der Stimme entscheidet, nicht mehr gerichtliches Theater ist, sondern Tribunal.

Der Prozess als Reedukation

Ein Tribunal - das ist eine öffentliche Verhandlung, in der sich die Regeln nach außerrechtlichen Kriterien fortwährend ändern. Da wird nicht mehr der Fall inszeniert und beurteilt, sondern Stimmgewalt entscheidet. Stalin-Prozesse, der brüllende Freisler der NS-"Justiz". Oder auch: Liveübertragungen der McCarthy-Anhörungen oder vom Visa-Untersuchungsausschuss. Im Tribunal geht es um eine Lektion, nicht darum, die richtige Entscheidung zu finden. Und es sind die Medien, die, so Vismann, diesen Unterschied machen können. Medien können ein Verfahren tribunalisieren: Ein möglichst breites Publikum erfährt dann etwas, je mehr, desto besser, und urteilt selbst. Im germanischen Thing wurde unter freiem Himmel verhandelt, und die umstehenden Männer, die "Umstände", urteilten am Schluss. In Stammheim wurde eine Halle benutzt, kein Saal, mit über 200 Plätzen im Zuschauerraum. Die Nürnberger Prozesse wurden ebenso gefilmt wie der Eichmann-Prozess und sollten der Reedukation dienen. Und Verfahren aus Den Haag werden im Internet übertragen. Wozu also ist das gut?

Vismann diskutiert hier auch das Publikum. Anders als beim Tribunal ist das Publikum vor Gericht genauso limitiert wie im Theater. Es wird durch endlos scheinende Gänge geleitet, hat eventuell Kopfhörer, aber kein Mikrofon, darf nicht stören, erlebt auch die Beratung und Entscheidungsfindung nie mit, nicht im sonst transparent-gläsernen Gebäude des Bundesverfassungsgerichts, nicht im heutigen Theater außerhalb der alten Säle. Die Glaskabinen in heutigen Großverfahren lassen sich technisch verhängen, wenn der Vorhang fallen soll. So kämpfen Gerichte darum, Theater bleiben zu dürfen. Manche deuten das als Angst vor zu viel Öffentlichkeit oder als schlichte Sturheit entgegen den Zeichen der Zeit. Vismann warnt auch hier davor, die Tribunalisierung zu übersehen, die mit den Medien einhergeht.

Diskursanalyse im Geiste Michel Foucaults

Im Gericht wird, so der französische Rechtstheoretiker Legendre, die Tat "gespielt", auf die Bühne gebracht, aufgeführt, was die Theatergruppe Rimini Protokoll in ihrem Stück "Zeugen!" zeigt. Das ist typisch für Vismann, die Antike mit Gegenwart, Psychoanalyse mit Theater, Film mit Verfahren verknüpft. Wer meint, das sei "zu assoziativ" oder sonst "unsauber", versäumt den Facettenreichtum dieses Buches. Es lohnt, Literatur mit Cinematografie, Prozessrecht mit Rechtsgeschichte, Technologieentwicklung mit Kulturtheorie zu verbinden, also Kafka neben Handke als Beobachter und die Geschichte des Kinofilms, des "Cine-Gerichts". Wer nicht zuckt, wenn auf "§ 169 GVG" Bezug genommen und die Regelung dann auch erklärt wird, profitiert von einer Diskursanalyse im Geiste Michel Foucaults, die Recht nicht etwa nur von Ferne betrachtet, sondern das Innenleben des Rechts auszuleuchten sucht. Das ist anschaulich souverän. Es ist ein schönes Buch, bildungsschwer. Es ist aber auch Konfrontation und damit ein politisches Buch, denn Stimme/voice, Präsenz und Bilder verlieren hier ihren guten Ruf so wie die Akte ihren schlechten. Auf die Mischung komme es an.

Ob wir das Theater im Gericht vor der Tribunalisierung retten sollten und können, wird ohnehin nicht verraten. Denkbar ist ja durchaus, den Kampf, der das Tribunal auszeichnet, als effizienten Wettbewerb zu verstehen, und das Theater, von dem das Gericht im Saal lebte, als Ritual zu denunzieren. Es ist auch denkbar, die Kamera über den Richter und die Richterin siegen zu lassen, wenn die Aufzeichnung aus dem U-Bahnhof die Urteilsfindung ersetzt, denn niemand kann das so erzählen wie ein Video. Aber tut das gut? Dem Text wohnt eine gewisse Sorge inne, um das Ende des Theaters, als Gericht. Cornelia Vismann lag am Versprechen der Gerechtigkeit, das mit den Formen des Rechts einhergeht. Deshalb ist ihr Buch ein gutes Stück Aufklärung über das, was Recht in einer Medienwelt ausmacht. Es fordert uns auf, genauer hinzuhören und hinzuschauen. Hoffentlich lesen das viele.

Die Autorin ist Richterin am Bundesverfassungsgericht.

Cornelia Vismann: "Medien der Rechtsprechung". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 464 Seiten, 22,95 Euro

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