Buch über die Kritische Theorie: Die Emanzipation abgleichen
„Habermas im Kleid“? Ein neuer Sammelband untersucht das Verhältnis von Kritischer Theorie und Feminismus.
Die „Kritische Theorie“ wurde von einem Männerverein entwickelt. Jedenfalls die ältere Kritische Theorie. Sie alle, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Henryk Grossmann, Friedrich Pollock sowie Erich Fromm, waren – wie die brillante Gruppenbiografie von Stuart Jeffries’ „Grand Hotel Abgrund“ zeigt – Söhne wohlhabender, jüdischer Väter. Söhne, die jedenfalls in der Theorie gegen deren Lebensweise aufbegehrten.
In ihren vielfältigen Studien, an denen allenfalls eine Frau, die früh verstorbene Else Frenkel-Brunswik, beteiligt war, kritisierten sie die autoritäre, patriarchalische Familie – jedenfalls in ihrem Frühwerk. So wusste bereits Adorno in den 1951 publizierten „Minima Moralia“: „Der weibliche Charakter und das Ideal der Weiblichkeit, nachdem er modelliert ist, sind Produkte der männlichen Gesellschaft.“
Der jetzt von der Passauer Soziologin Karin Stögner – ihr verdanken wir eine luzide Studie zum Verhältnis von Antisemitismus und Sexismus – sowie der ebenfalls in Passau lehrenden Philosophin Alexandra Colligs herausgegebene Band „Kritische Theorie und Feminismus“ geht den Schnittstellen sowie den Differenzen von Kritischer Theorie und Feminismus penibel nach.
In vier Abschnitten werden, nach einer Einführung, sowohl das Spannungsverhältnis von feministischer Theorie und moralischem Universalismus, von kritisch-feministischen Perspektiven auf Produktion und Reproduktion, als auch der Streit um das Verhältnis von Identität, Subjekt und Differenz sowie von psychoanalytischen Perspektiven auf Vergeschlechtlichung und Herrschaft auf höchstem Niveau verhandelt.
Karin Stögner und Alexandra Colligs (Hg.): „Kritische Theorie und Feminismus“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 394 Seiten, 24 Euro
Das noch immer ungeklärte Thema
An dieser Stelle sei jener Abschnitt hervorgehoben, der dem Autor dieser Zeilen als das zentrale, noch immer ungeklärte Thema des Verhältnisses von Feminismus und Kritischer Theorie erscheint. Nämlich der Streit zwischen einer feministischen Philosophin der zweiten Generation Kritischer Theorie – Seyla Benhabib – und der eher dekonstruktiv argumentierenden Philosophin Judith Butler über das Wesen von „Geschlecht“.
Kein Zufall ist es daher, dass ein ausführliches, von Stögner geführtes Interview mit Benhabib bereits am Anfang des Bandes steht; darin offenbart Benhabib nicht nur, wie viel ihr Ansatz Hannah Arendt und Jürgen Habermas verdankt, sondern auch, dass es ihr politisch darum geht, „das Partikulare im Namen des Universellen zu mobilisieren“. Was ihr gleichwohl die von der brasilianischen Philosophin Ana Claudia Lopes aufgeworfene Frage einbringt, ob sie am Ende nicht „ein Habermas im Kleid“ sei.
Lopes beantwortet die von ihr selbst gestellte Frage am Ende gleichwohl mit der Feststellung, dass sich Benhabibs Denken deutlich vom Denken Habermas’ absetzt: Stelle sie sich doch nur deswegen auf die Seite seiner Diskursethik, um sie zugleich neu zu fassen – werde doch die Diskursethik durch feministische Kritik dazu provoziert, eine praktische feministische Philosophie zu entwickeln.
Eine Philosophie nämlich, die sich wesentlich Hannah Arendts Einsicht verdankt, dass Menschen in narrativen Beziehungsgeflechten leben – in Beziehungsgeflechten, die nicht herrschaftsförmig sein dürfen. Gleichwohl bringt zumal Lopes den Verdacht ins Spiel, dass Benhabibs „diagnostisch-erklärender“ Ansatz „im Dienst der Verschleierung, wenn nicht gar Rechtfertigung gerade jener Herrschaft und Ausbeutung stehen kann, die er eigentlich erklären soll …“
Aufruf zu einer neuen Solidarität
Neben Benhabib ist es eine einzige andere Philosophin, deren Werk der vorliegende Band mit einem ausführlichen Interview dokumentiert: Das von Alexandra Colligs geführte Gespräch mit Rahel Jaeggi endet mit einem Aufruf zu einer neuen Form von Solidarität, die ihren Ausdruck in einer angestrebten Transformation sämtlicher Lebensverhältnisse finden soll.
Anfangs wurde auf die männliche Sozialisation der älteren Kritischen Theoretiker hingewiesen. Eine Sozialisation, die sich bei alt gewordenen Mitgliedern dieser philosophischen Schule durchaus noch einmal bemerkbar machte, etwa wenn Max Horkheimer in den späten 1960er Jahren in einem Schreiben an Papst Paul VI. diesem in seiner Ablehnung der „Antibabypille“ mit dem Argument zustimmte, dass sie das Ende der romantischen Liebe bedeute.
Endlich ist vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte zu fragen, ob Adornos 1951 in der „Minima Moralia“ verkündete Behauptung „Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik: Der Ankläger hat immer Unrecht“, so noch zutrifft. Ganz abgesehen davon, dass hier die Rede vom „Ankläger“ ist.
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