Britisches Bildungssystem: Hoffnungen zweiter Klasse
In den Problembezirken Großbritanniens sind Schulen oft schlecht ausgestattet, das soziale Umfeld schätzt Bildung nicht wert. Wer dort aufwächst, für den bleibt Oxford unerreicht.
LONDON taz | Ist das die perspektivlose Jugend Englands? Die drei Jungs hängen in der Einfahrt eines Reihenhauses in Tottenham herum. Der eine trägt dicke Kopfhörer unter seiner Kapuze, dem zweiten steckt ein Kamm im Afro, der dritte stellt sich in seinen Turnschuhen auf die Zehenspitzen, um genau zu sehen, was vor sich geht: Die Journalisten schräg gegenüber der Einfahrt packen gerade ein, als ein Bagger beginnt, das schwarz ausgebrannte Gebäudegerippe hinter ihnen abzureißen, das die Ausschreitungen hier vor wenigen Tagen hinterlassen haben. In Tottenham hatten die Krawalle begonnen.
Während Tottenham zur Normalität zurückkehrt und die Gerichte Londons mehr als tausend Jugendliche wegen der Krawalle angeklagt haben, beginnt in Großbritannien die Suche nach den Ursachen der sozialen Probleme. Welche Rolle spielt das Bildungssystem?
Tottenham ist unter den 5 Prozent der am meisten benachteiligten Viertel in England. Doch die drei Jungs vor dem Reihenhaus entsprechen nicht der deutschen Vorstellung eines sozialen Problems. Sie sind alle 17 Jahre alt und werden im nächsten Jahr anfangen zu studieren. Was, das wissen sie noch nicht genau, vielleicht Computerforensik oder Medienwissenschaften.
Studiert zu haben ist in Tottenham keine Seltenheit. Daten von 2001 zeigen, dass mehr als 30 Prozent aller Bewohner des Viertels einen Universitätsabschluss haben oder ein dem Abitur gleichwertiges Bildungsniveau. Das ist zwar weit unter der Rate von London von 40 Prozent, aber besser als der Durchschnitt Englands.
In Deutschland steht die Hauptschule in Verbindung mit sozialen Problemen. In Großbritannien gibt es kaum verschiedene Glieder im Schulsystem, die meisten Schüler besuchen Gesamtschulen. Trotzdem stehen die Chancen für ein Kind aus einer armen Familie, an ein hohes Einkommen zu kommen, sehr schlecht. Zur Hälfte bestimmt die Herkunft das spätere Einkommen der Kinder, in Deutschland liegt dieser Wert bei etwa einem Drittel. Das berichtet die OECD in einem Report vom vergangenen Jahr.
Selbst ein Uni-Abschluss ist nicht genug
Das Problem in Gegenden wie Tottenham ist weniger, einen bestimmten Bildungsgrad zu erreichen, sondern eher, mit dieser Bildung auch etwas anfangen zu können. Viele geben die Hoffnung auf einen guten Job früh auf und werfen hin, sobald sich eine Gelegenheit auftut, die kurzfristig sinnvoller scheint. Denn selbst wenn man auf einer Uni war und dann einen Job bekommt, reicht für viele Bewohner von Stadtteilen wie Tottenham das Gehalt kaum, um bei den Eltern auszuziehen. Zu den besten Unis in Oxford oder Cambridge schafft es aus den Londoner Problemvierteln kaum jemand.
"Die kommen nicht auf die Topuniversitäten, denn deren Noten sind meistens einfach zu schlecht", sagt Matt Grist vom Thinktank Demos. Hier gibt es auch Unterschiede bei der Hautfarbe. 2007 hatten fast 10 Prozent der schwarzen Schüler einen Abschluss, der gut genug war, bei weißen waren es 23 Prozent, nach Zahlen des Bildungsministeriums. Die Schulen seien nicht gut genug, sagt Grist. Wenn Schulen in Problemvierteln kein besseres Gehalt böten, gingen die guten Lehrer in Viertel, wo sie es einfacher hätten. Dazu käme ein problematischer Freundeskreis, kulturell werde Bildung in dieser Schicht nicht wertgeschätzt. Eltern hätten keine Erwartungen an die Ausbildung ihrer Kinder.
Diese Erfahrungen kennt Samuel McHugh. Vor zwei Jahren hat er einen Bachelor in Psychologie beendet. Als er zwölf war, ist seine Familie aus einem Problemviertel in Notting Hill weggezogen. Es wäre ihm ansonsten gar nicht in den Sinn gekommen, an Bildung oder Uni zu denken. "Ich wäre wohl kriminell geworden", sagt er heute. "Die Leute unterschätzen immer, wie stark einen in London das Umfeld beeinflusst. Aus seinem Block Sozialwohnungen kommt man nicht raus." Bildung war bei Freunden und in der Familie kein Thema. "Da fragt niemand: Was willst du denn mal studieren?'"
Bei solchen sozialen Hürden sei es schwer für die Politik, den Jugendlichen zu helfen, sie zu überwinden, sagt Grist. Bei der Qualität der Schulen könne man aber etwas machen. Ein positives Beispiel gebe es im Londoner Stadtteil Hackney. Den Index der benachteiligten Gegenden Englands führt dieser Stadtteil an, auch hier kam es in der vergangenen Woche zu Krawallen.
Das Erfolgsmodell in Hackney seien die sogenannten Akademien. "Die haben Resultate, auf die wären manche Privatschulen stolz", so Grist. Die Akademien waren vorher normale Schulen. Seit der Regierung von Blair bekommen sie zusätzliches Geld, und statt der Schulbehörde hat ein Schulleiter das Sagen. "Die setzen dann zum Beispiel eine Null-Toleranz-Politik gegen Fehlverhalten im Unterricht durch, etablieren eine Kultur harten Arbeitens und sorgen gleichzeitig dafür, dass die Schulen so für die Schüler eine sichere Umgebung sind." Premierminister David Cameron will das Modell ausbauen.
Die Zukunft von Schülern entscheide sich aber nicht erst auf solchen weiterführenden Akademien, sondern schon in der Grundschule, so Grist. Die Leistung eines Schülers mit sieben sei die beste Vorhersage für dessen Leistung zehn Jahre später. Die Regierung solle sich daher überlegen, wie sinnvoll es sei, dass mehr Geld für die weiterführenden Schulen als für die Grundschulen ausgegeben würde.
Nadelöhr Bewerberinterview
Auch wenn sich so das Bildungssystem vielleicht in Zukunft verbessert, momentan sind die Perspektiven begrenzt. In Großbritannien scheint teilweise noch eine Trennung nach Klassen zu wirken. Fünf Schulen stellten in den vergangenen drei Jahren mehr Studenten in Oxford und Cambridge als die rund 2.000 anderen Schulen im Vereinigten Königreich während der selben Zeit. Es waren das Hills Road College, Westminster, St. Paul's, die St. Paul's Mädchenschule und Eton. Das zeigt eine Studie der Organisation Sutton Trust. Wieder gibt es Unterschiede in der Leistung der Schüler, die das teilweise erklären könnten, sie sind aber nicht der einzige Grund dafür, dass sich so häufig die Schüler dieser privaten Internate im Bewerbungsverfahren in Oxford und Cambridge durchsetzen.
Harry Gibson hat sich durchgesetzt. Er war erst in Eton, dann in Oxford und dann an der London School of Economics. Er glaubt, die Interviews, denen sich die Bewerber um ein Bachelorstudium stellen müssen, seien ein weiterer wichtiger Grund für ihren Erfolg. Denn da die Noten in den A-Levels, dem britischen Abitur, immer besser wurden, orientierten sich die Unis stärker an diesen Interviews. Als Eton-Schüler sei er darauf gut vorbereitet gewesen. "Ich wusste ziemlich genau, was ich dort gefragt werden würde", sagt Harry. Die Lehrer hatten einen Austausch mit den Lehrern anderer Schulen organisiert, die mit den Schülern in Eton mehrere Testinterviews durchspielten. Zwei seiner Freunde, die auf staatlichen Schulen waren, hätten dagegen keine genaue Vorstellung davon gehabt, wie so ein Interview läuft. Es gibt auch Firmen, die Bewerbungstrainings anbieten. Ein Wochenende kostet 1.500 Pfund pro Person.
Ein weiterer Grund kann auch sein, dass die Bewerber von den Internaten entschlossener sind, einen Studienplatz in Oxford zu bekommen. Sie bewerben sich auch zweimal hintereinander und machen ein Jahr zwischendrin etwas anderes, falls es nicht klappt. Manche orientieren sich auch an der Wahl des Fachs, um nach Oxford zu kommen. Kinder aus den unteren Schichten bewerben sich eher für Studiengänge, die gute Berufsaussichten bieten. Wieder gibt es Unterschiede in der Hautfarbe. Etwa 30 Prozent der schwarzen Bewerber hatten sich für Medizin beworben, unter den weißen waren es 7 Prozent.
Selbst wenn das britische Bildungssystem es schaffen würde, die Jugendlichen zu Abschlüssen zu führen - eine Perspektive, auf eine der besten Universitäten gehen zu können, gibt es für Jugendliche in Tottenham und anderen Problemvierteln praktisch nicht. Sie pflegen bestenfalls weiter ihre Hoffnungen zweiter Klasse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin