Britischer Sportsgeist bei Olympia: Jubeln, bis der Letzte gegangen ist
Die Briten feierten jeden und alles. Selbst der Name eines britischen Punktrichters war ihnen Anlass für frenetischen Applaus. Dennoch: Usain Bolt überschattete alles.
Weiße Zelte an den Eingängen. Sicherheitsschleusen. Soldaten in Uniform, die Verdächtiges scannen wollen, wenn es piept. Die Friedensspiele finden in Kriegszeiten statt. Der Einsatz der Armee ermöglicht erst das große Sportfest. Die Soldaten müssen freundlich sein. Es ist ein PR-Einsatz an der Heimatfront.
Olympia soll heiter sein. Auch die Bobbys mit ihren Maschinenpistolen lächeln wie die lila- und rosafarben gekleideten Volunteers. Da lang geht’s! Kein Schritt ohne Hilfe. Bitte links halten! Gelenkte Fröhlichkeit hinter den Zäunen. Einen schönen Tag, und da lang bitte! Keiner, der ausschert. Alle folgen dem Weg, den die Helfer weisen. Folgsames Volk.
Die Briten funktionieren besonders gut. „Dein Team braucht dich!“ Steht überall. Die Olympiabesucher stecken sich Fähnchen in den Rucksack. Der Union Jack ist allgegenwärtig. Die Olympianarren wollen sich ein Stückchen von den Spielen nehmen. Man hat ihnen gesagt, dass man sie braucht, also sind sie da und jubeln in der Boxarena sogar, wenn der Name eines britischen Punktrichters genannt wird. Nach dem Kampfabend watscheln sie in der Herde dahin, wo die Helfer sie hinschicken. Das kann manchmal dauern. Macht nichts.
„Jetzt alle einmal klatschen!“
Irgendwo sitzt ein Volunteer auf einem Hochsitz und fragt: „Na, wie geht’s?“ Und alle jubeln. Die Animation geht weiter. „Jetzt alle einmal klatschen!“ Und alle klatschen. Warum ist keiner sauer, dass man ihn auf einen halbstündigen Umweg zur U-Bahn geschickt hat? Olympia hat gute Laune bei den Briten bestellt. Sie machen mit. Machen sie alles mit? Weinen sie nur auf Befehl, wenn eines Tages mal die Königin sterben sollte, und sind erst dann traurig? Vielleicht ist Pjöngjang gar nicht so weit weg.
Zu den Gästen sind die britischen Sportfans höflich. Toll? Höflich waren die Chinesen vor vier Jahren auch. Und der sprichwörtliche Sportsgeist? Der kann durchaus faszinieren. Ein Volleyballtag in der riesigen Ausstellungshalle Earl’s Court ist ziemlich lang. Von der Früh um zehn bis Mitternacht. Wer eine Karte hat, kann den ganzen Tag mit Volleyball verbringen. Engländer, die zuvor noch nie ein Volleyballspiel gesehen haben, gehen nicht, bevor der letzte Punkt gespielt ist. Sie lassen sich ein auf einen unbekannten Sport und meckern nicht.
Die leeren Plätze, die in den Verkauf gelangen, weil Funktionäre und Sponsoren nicht verteilte Tickets zurückgeben, sind schnell verkauft. Eine irrwitzige Olympiabegeisterung treibt die Menschen zu den Ereignissen. Wer keine Karte bekommt, stellt sich in die 20. Reihe an den Straßenrand und versucht einen Blick auf Bradley Wiggins zu erhaschen, wenn der vorbeirast.
Der Radler ist der erste große Held der Spiele, der beste britische Sportler aller Zeiten, so lange, bis Chris Hoy, ein anderer Radler auf der Bahn, sein insgesamt sechstes Olympiagold gewinnt. Der Größte. Der Erste. Die Spiele schreiben schnell Geschichte, auch weil Briten so gut sporteln wie noch nie zuvor.
Deutscher Sumpf statt Multikulti-Party
Man muss englischen Medien aus dem Weg gehen, wenn man mitbekommen will, dass auch andere Sportler Geschichte, zumindest Geschichten schreiben. Südafrika gewinnt Rudergold im Leichtgewichtsvierer. Das hat es noch nie gegeben. Im Boot sitzt zwischen drei Weißen Sizwe Ndlovu aus KwaZulu-Natal. Er wird gefeiert wie ein König seines Volkes. Noch Stunden nach dem Rennen kann er sich nicht beruhigen. „Ich und Gold“, sagt er, „das ist doch ein Witz!“
Er und seine Kameraden wollen gar nicht mehr aufhören zu tanzen. Es ist der Tag, an dem der deutsche Ruderverband eine Frau aus dem Achter vor der Presse versteckt, weil die von ihr wissen will, was dran ist an den Geschichten über sie und ihren Nazifreund, der auch einmal Ruderer war. Während Ndlovu feiert, sitzt Nadja Drygalla mit der deutschen Teamleitung zusammen und verlässt kurz danach das olympische Dorf. Deutscher Sumpf statt Multikulti-Party.
Am Ende ist es dann doch kein Brite, der der ganz große Held der Spiele wird, auch wenn das Bild des heulenden Chris Hoy immer wieder und viel zu oft gezeigt wird. Es ist Usain Bolt. Eine Kreditkartenfirma hat ihn allüberall in London überlebensgroß plakatiert. Bolt erklärt sich selbst zur Legende. Mit seinem Erfolg scheißt er alles zu, was sonst noch in den Wettbewerben passiert.
Bolt, Bolt, Bolt
Die irrwitzige Freude der Kolumbianierin Caterine Ibargüen über ihr Silber im Dreisprung bekommt kaum einer mit. Dass sie einen ihrer besten Sprünge irrtümlicherweise abgebrochen hat, weil sie dachte, sie hätte übertreten, geht unter. Die 400-Meter-Sprinter von den Bahamas, die die Staffel gewinnen, sind Sternchen für einen Tag. Und dass die US-Sprinterinnenstaffel der DDR einen ihrer letzten Weltrekorde abnimmt, reicht auch nicht über die Dämmerung hinaus. Als die venezolanische Boxerin Karlha Magliocco früh ausscheidet, ist sie längst ein Star in der Halle, weil sie ihre Landsleute mit ihrer irren Stimme so laut angefeuert hat, dass sie dafür Applaus bekommen hat. Wen interessiert’s?
Bolt, Bolt, Bolt. Selbst Polizisten, die nach den Wettbewerben am Stadion patrouillieren, zeigen die Bogenschützengeste des Jamaikaners. Der ist einer von vielen Spitzensportlern bei diesen Spielen und der einzige echte Star. Da kann selbst Team GB nicht mithalten – Andy Murray nicht, der endlich in Wimbledon gewinnnt, Mo Farrah nicht, der über die 10.000 Meter und die 5.000 Meter siegt, Nicola Adams nicht, die zu den ersten Olympiasiegerinnen des Frauenboxens gehört, und auch Bradley Wiggins nicht, wegen dessen Erfolgen im Königreich mehr Räder verkauft werden als je zuvor. 302 Goldmedaillen waren am Sonntag gewonnen und doch scheint es, als sei es eine einzige Bolt-Show gewesen. Den finden auch die Briten toll.
Die feiern nebenbei noch ganz andere Sieger: die Soldaten, eigentlich Frontkämpfer in Afghanistan oder sonst wo. Die Armee hat sich an der Heimatfront bewährt. Man darf sich am Ende sogar mit ihnen fotografieren lassen. Merkwürdige Bilder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich