: Britannien: Land in Sicht - unterirdisch!
■ Der Tunnel unter dem Ärmelkanal wird gebaut: Mitterrand und Thatcher tauschten Ratifizierungsurkunden / Mehr als 250 Banken teilen sich das Risiko / Kleinaktionäre werden mit Reisevergünstigungen geködert / Am 1. Dezember wird losgebohrt, Eröffnung im Mai 93 (?)
Aus London Rolf Paasch
Zwei Staatschefs setzen sich ein Denkmal. Zwei ehemalige Kolonialmächte wollen sich mit einem so größenwahnsinnigen wie unsinnigen Verkehrsprojekt, der Untertunnelung des Ärmelkanals zwischen Frankreich und Großbritannien, noch einmal längst verloren gegangene Größe beweisen. Und der Rest schaut der Zeremonie entweder empört zu, wie die britischen Umweltschützer, oder bewundernd, wie die Mehrzahl der Autofahrer. So geschehen bei der gestrigen Unterzeichnung des anglo–französischen Vertrags zum Bau des Kanaltunnels, an dem Napoleon 1802 ebenso gescheitert war wie die Labour–Regierung in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts. Während in Frankreich kaum Widerstand gegen das Tunnelprojekt zu verzeichnen gewesen war, hatte die britische Regierung einige Schwierigkeiten, die Küstenanwohner in Dover und die Finanziers in der City von den Vorzügen des Kanaltunnels zu überzeugen. Doch die von vielen erwartete Empörung des so sehr auf die Bewahrung seiner Eigenheiten bedachten Inselvolkes gegen seinen Anschluß an den Kontinent blieb am Ende aus. Im Mai 1993, so die Planung, sollen die ersten Autozüge in 30 Minuten durch den 50–km–langen Doppeltunnel zwischen der Grafschaft Kent und dem Distrikt Calais jagen, sollen die zwischen Paris und London verkehrenden Hochgeschwindigkeitszüge mit einer Reisezeit von drei Stunden dem Flugverkehr Konkurrenz machen. Ob der Termin 1993 eingehalten werden kann, ist fraglich: Tunnelarbeiter fanden nach Mitteilung der Baugesellschaft gestern bei Calais drei aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Blindgänger. Sah es noch im Frühjahr so aus, als würde zumindest das britische Einstiegsloch in den Tunnel bei Dover nie gebuddelt werden, so besteht heute die größte Sorge des Vorsitzenden des „Eurotunnel– Konsortiums“ Alastair Morton darin, „daß die Dinge allzu gut zu laufen scheinen“. Mit viel Glück und Geschick hatte der neue Vorsitzende seinen Aufsichtsrat in den letzten Monaten neu grup piert, auch die restlichen britischen Großbanken als Bürgen für das 5–Mrd.–Pfund–teure Projekt (15 Mrd. DM) hinzugewonnen, zweifelnde Journalisten mit reich lich Speis und Trank bearbeitet und selbst die Widerstände an der skeptischen Londoner Börse überwunden. Ende August wird „Eurotunnel“ in die Finanzhauptstädte der Welt reisen, um das Risiko auf weitere 250 Banken zu verteilen. Ende November müssen dann noch die letzten 750 Mio. Pfund in einer Aktienanleihe aufgenommen werden, bei der auch der „kleine Investor“ mit Reisevergünstigungen geködert werden soll. Selbst die britischen Gegner des Projekts, deren umweltpolitischen Einwände von der Regierung Thatcher im Verlaufe ihrer Ruckzuck–Gesetzgebung administrativ aufgelöst wurden, geben nach dem klaren Wahlsieg der Konservativen zu, daß der Tunnel jetzt wohl gebaut wird. Und nachdem das Fährunglück vor Seebrügge rund 200 Menschenleben gekostet hat, haben die sicherheitstechnischen Argumente der Fährindustrie gegen den Tunnel an Überzeugungskraft verloren. So werden sich also ab 1. Dezember die derzeit in Glasgow produzierten 6,5–Tonnen–schweren Riesenbohrer mit einer Geschwindigkeit von vier bis acht Meter pro Stunde durch den Meeresboden fressen und den Keynesianern einen verspäteten Sieg über den Thatcherschen Monetarismus bescheren. Denn schon in den vierziger Jahren hatte der berühmte Ökonom aus Cambridge vorgeschlagen, die Massenarbeitslosigkeit durch staatlich organisiertes Buddeln von Löchern zu bekämpfen; nur daß die als Teil der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme danach auch wieder zugeschüttet werden sollten.
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