Briefroman der Nachkriegstzeit: Hoffnung auf die Atlasameise
70 Jahre nach ihrem Tod erscheint ihr letzter Roman: Susanne Kerkhoffs Roman „Berliner Briefe“ berichtet von den Dämonen der Nachkriegszeit.
Es war längst überfällig – aus literarischen, politischen, zeitdiagnostischen und nicht zuletzt aus Gründen historischer Gerechtigkeit: Im Frühjahr 2020, siebzig Jahre nach ihrem Tod, sind Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“, ihr letzter Roman, im Verlag Das kulturelle Gedächtnis wieder erschienen.
Lange ist es her, als 1948 der Schriftsteller Wolfgang Goetz den Roman der 1918 in Berlin geborenen Autorin in seinem Wedding-Verlag veröffentlichte; zu lange wurde in Ost und West, sei es stalinistisch oder antikommunistisch motiviert, ihr Leben und Werk verschwiegen. Mit der Veröffentlichung dieses zeitdiagnostisch „beeindruckenden“ und „literarisch überzeugenden Zeitdokuments“, so im Nachwort des Verlegers und Herausgebers Peter Graf, gehört nun das Schweigen endgültig der Vergangenheit an.
Die Schatten, die jahrzehntelang Leben und Werk der Schriftstellerin verdeckt hatten, wurden bereits mit Ines Geipels „Die Welt ist eine Schachtel – Vier Autorinnen in der frühen DDR: Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker“ (Transit Buchverlag 1999) oder mit dem von Monika Melchert herausgegeben Band aus Kerckhoffs Werk: „Vor Liebe brennen. Lyrik und Prosa“ (trafo Literaturverlag 2003) halbwegs aufgelöst.
Susanne Kerckhoff: „Berliner Briefe. Ein Briefroman“. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. 112 Seiten, 20 Euro.
Im TV: Das Buch wird am Freitag, 5. Juni, im Literarischen Quartett im Fernsehen diskutiert.
Endgültig vollzogen wurde es mit „Die verlorenen Stürme“, dem Nachdruck eines früheren Romans, der 1947 auch bei Wolfgang Goetz erschien, sowie mit „Das Susanne Kerckhoff Lesebuch: Prosa, Essays Feuilletons“, die Das kulturelle Gedächtnis für jeweils 2021 und 2022 angekündigt hat. Damit soll Kerckhoffs literarisches Werk, das bis jetzt noch zerstreut vorliegt und damit bisher zumeist nur engagierten Experten zur Verfügung stand, einer immer größer werdenden Leserschaft zugänglich gemacht werden.
Das Ganze stinke zum Himmel
Kerckhoffs „Berliner Briefe“ stehen von vornherein in einem ambivalenten Verhältnis zu deren Objekt und damit auch zu sich selbst. In ihnen spiegeln sich „Ratlosigkeit und Hoffnung“, schreibt sie in ihrer unter „Dezember 1947“ datierten Vorbemerkung. „Die belletristische Form wurde gewählt, weil dieses Büchlein kein endgültiges, ausgereiftes Credo sein kann. Im Zeitgeschehen verdunkeln und erhellen sich die Erkenntnisse. Jeder Tag bringt neue Entscheidungen. Beständig bleiben nur die Wachheit des Gewissens und der Wille, die Wahrheit unermüdlich zu suchen und ihr zu dienen. Daher ist der vorliegende Versuch fehlerhaft – aber er ist ehrlich.“
In den hingegen undatierten „Dreizehn Briefen“ an Hans, den in Paris lebenden, „humanitären“, imaginären jüdischen Freund, umreißt sie, nun als Helene, die Lage in Nachkriegsdeutschland als eine, die kaum schlechter, bitterer und verheerender sein könne. Opportunistische Sozialdemokraten, Christdemokraten oder korrupte SED-Genossen – das Ganze stinke zum Himmel.
Die Anklage wird radikal erhoben: „Lege Dein Ohr an die deutsche Erde, Lieber – vernimm in den heimlichen Drähten den unmittelbaren Kontakt eines falschen Summens: Unehrlichkeit, Prahlerei. Es ist Zeit, und es ist zu späte Zeit, daß damit aufgeräumt wird. Ich will bei mir selbst anfangen und bei mir selbst aufhören, denn ich bin von niemandem zum Richter bestellt“, heißt es in ihrem dritten Brief.
Und weiter: „Ach Lieber … Es wird doch immer schlimmer, je länger es her ist. Aus dem Wirren der Geschehnisse treten die Schatten dunkler hervor. Die Wirren schwinden, aber die Schatten werden größer. Die Gräber der in Auschwitz vergasten Freunde sind in mir.“
Doch immer wieder scheint der an Thomas Manns Settembrini aus dem „Zauberberg“ geschulte Freund zu mahnen: „Bediene dich deines Verstandes!“, dessen verhängnisvolles Abschalten angesichts des Äußersten an jene Grenze stößt, in der es nach dem gleichnamigen Buch von Tzvetan Todorov „weder Helden noch Heilige“ gibt.
Vor Dämonen verschanzt
Erst dann schlägt die ins Unbedingte überspannte Empörung in deren „humanitäre“ Bedingtheit um. Und so hält sich die „Naturprotestantin“ wohl auch immer wieder an einem letzten Rekurs fest: an Luthers Tintenfass als aufblitzendem Licht von Vernunft, um sich zu befreien – „von untergründig kichernden Dämonen über den losgelassenen Freiheitsdurst, der mit so wilder Unschuld in neue Sklaverei lief“. Bloß nicht, gleich Naphta, liederlich werden. Nein! „Ich ziehe es vor, mit meinem Settembrini, vor Dämonen guter und böser Art verschanzt, auf der Kurpromenade zu plaudern, seiner prätentiösen Stimme zu lauschen, die mir nicht Göttin ist – wohl aber flächige, sehr geliebte Pflicht!“, womit Helene ihren elften Brief abschließt und damit zu einem philosophisch-ethischen Abwägen übergeht.
„Wir Atlasameisen … Die Atlasameise ist ein Träger der Solidarität.“ So im darauffolgenden Brief. Ihr Antipode sei der Jäger – elegant und kaltblütig. Das Bild folgt Ernst Blochs Begriff des geteilten Lebens: warm – gemeinschaftsverbunden; kalt – gesellschaftlich bedingt. „Ich wünschte, mir wäre es anders, löschte ich mich selbst aus – den Sieg der Atlasameise. Ich bin auch überzeugt davon, daß die Atlasameisen sich vermehrt haben, daß das Zeitalter der Atlasameise im Kommen ist. Aber wie sollte ich es Jägern verübeln, daß sie ihr Jagdgebiet verteidigen!“
Dennoch: „Deinem Brief nach scheinst Du mir auch eine Atlasameise zu sein. Was trennt uns eigentlich? Nur Deine Klugheit – sie ist verdächtig jägerlich.“ Und davor das klare Bekenntnis: „Mein Lebensgefühl als Sozialist[in] ist inattackabel.“
Angreifbar, verwundbar bleibt sie dennoch, besonders durch das Bewusstsein ihrer Spaltungen, die ihr zum Verhängnis werden. Die Welt transzendentaler Obdachlosigkeit oder vollendeter Sündhaftigkeit, ein mögliches Schicksal von „Atlasameisen“, führt dazu, sich selbst auszulöschen.
Der bittere Trank der Enttäuschung
Alfred Seidel ähnlich, dem tragischen Philosophen aus der Weimarer Zeit, bleibt sich Kerckhoff radikal treu. Das ist die alte und neue Lebensverlegenheit: „Bewusstsein als Verhängnis.“ Da die geistigen, sozialen und politischen Prinzipien, die einst noch Zukunft verhießen, versagen und zu einer menschenverachtenden Rechtfertigungsideologie werden, leitet das Unbedingte den bevorstehenden Tod ein.
Und dennoch, dieses leidenschaftliche Leben hat es offenbar vorgelebt, was sonst andere oft in einer an sich verzweifelnden Zeit nicht zu leben gewagt haben: „Nur was aus eigener Lebenserfahrung gespeist wird, kann auf fremde Lebenserfahrung ansprechen, nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.“ So der Philosoph Helmuth Plessner 1953 in seinem Essay „Mit anderen Augen“.
Am 15. März 1950 beendet die sozialistisch überzeugte 32-jährige Dichterin ihr Leben in Berlin. Die Autorin weiterer Romane wie „Tochter aus gutem Hause“ (1940), „Das zauberhafte Jahr“ (1940), oder „In der goldenen Kugel“ (1944); von Gedichtbänden wie „Das innere Antlitz“ (1946), „Menschliches Brevier“ (1948) oder „Zeit, die uns liebt“ (1950 posthum „Ein Gedenkbuch für Susanne Kerckhoff, mit Beiträgen von Arnold Zweig und Paul Rilla“) wird schnell vergessen.
Die Nachrufe verhallen in doktrinärem Getue oder zynischem Hohn. So notiert Der Spiegel am 23. März, acht Tage nach Kerckhoffs Tod: „[…] literarische Hoffnung des Kommunismus und Kulturressort-Chefin der östlich orientierten „Berliner Zeitung“ beging Selbstmord. […] Susannes Halbbruder Wolfgang Harich […] hat ebenfalls einen Nervenknacks“ und „zur Zeit eine neue Adresse“ – in einer Nervenheilanstalt Thüringens.
Es liegt auf der Hand. So nimmt der kaltkriegerische Zynismus seinen Lauf, der auf der anderen Seite mit eisigem Schweigen quittiert wird. Im Westen, im Osten damals nichts Neues.
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