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Brief aus dem GefängnisEine Frage der Staatsräson

Der Journalist Nedim Türfent sitzt seit über 1.000 Tagen im Gefängnis. In seinem Brief schreibt er über die Tradition der Straflosigkeit in der Türkei.

Nedim Türfent befindet sich seit 1.007 Tagen in Haft Foto: Donata Künßberg

Die Literatin Aslı Erdoğan saß 2016 über vier Monate im Gefängnis, weil sie beschuldigt wurde, PKK-Mitglied zu sein. Der Grund: Sie hatte die verbotene Zeitung Özgür Gündem unterstützt. „Was für ein Verbrechen könnte schwerer sein als Mord, Massaker und Völkermord?“, fragte sie, und gab gleich selbst eine Antwort: „All das auf die eine oder andere Weise zu entlasten, zu rechtfertigen, zu legitimieren.“

Die Mächtigen, die immer autoritärer werden und sich weiter vom Rechtswesen abkoppeln, nehmen Einrichtungen und Personen in Schutz, die sie an der Macht halten. „In der Türkei scheuten die Regierungen nie Heuchelei, wenn es um die Wahrung von Rechten und Freiheiten, um das Recht auf Leben und Sicherheit, um Ermittlungen und Aufarbeitung ging“, sagte die Journalistin Mehveş Evin.

Schon im Osmanischen Reich und auch später nach der Gründung der modernen Republik waren Begriffe wie Recht, Demokratie und Gerechtigkeit stets Nebensachen. Wir hatten es häufig mit Beispielen der Straflosigkeit zu tun – Verbrechen, die der Staat duldete, bei denen er wegsah. Handelte es sich bei den Straftäter*innen um staatliche Einrichtungen oder regierungsnahe Kollaborateur*innen und Anhänger*innen, verhielt sich die Justiz wie die drei Affen: Augen zu, Ohren zu, Mund zu.

Selbst wenn auf Druck der Öffentlichkeit hin doch noch ein Verfahren eingeleitet wurde, verstaubten die Akten zumeist in den Regalen. Empathie übt die Justiz nicht mit den Betroffenen, den Opfern, sondern mit den Täter*innen.

Das ging so weit, dass Tansu Çiller, zwischen 1993 und 1996 Premierministerin, relativierend sagen konnte: „Für diesen Staat sind jene, die schießen, ebenso ehrenvoll wie jene, auf die geschossen wird.“ Bei dieser Haltung wird ein Sicherheitsbeamter potenziell zu einer herumirrenden Kugel, von der niemand weiß, wann sie wen trifft.

Institutionalisierte Straflosigkeit

Folgende Beispiele zeigen, dass es hier nicht nur um Einzelfälle, sondern um eine staatliche Tradition und Kultur der Straflosigkeit geht:

- 2004 wurde im Kreis Kızıltepe/Mardin der zwölfjährige Uğur Kaymaz im Streufeuer der Polizei von 13 Kugeln getroffen und ermordet. Der Fall wurde nicht aufgeklärt.

- 2005 wurde im Kreis Şemdinli/Hakkari ein Sprengsatz in die Buchhandlung Umut geworfen. Zwei Unteroffiziere aus dem Täterkreis sind 2017 freigekommen. Der damalige Generalstabschef Yaşar Büyükanıt nannte die Täter „gute Jungs“. Kaum waren sie frei, ließ Innenminister Süleyman Soylu sich mit ihnen fotografieren und veröffentlichte das Foto.

- 2016 wurden im Kreis Yüksekova/Hakkari vier Zivilist*innen, darunter ein Kind, getötet, als ein Panzerfahrzeug mitten in der Stadt aus heiterem Himmel das Feuer eröffnete. Der Polizist, der damals geschossen hat, hat seinen Posten bis heute inne.

- 2011 wurden im Kreis Roboski/Şırnak 34 kurdische Dorfbewohner, 22 von ihnen minderjährig, von Kampfjets ermordet. Der Prozess ging ohne Strafurteile aus.

- Der Anschlag auf Tahir Elçi, den Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır, der sich im Jahr 2015 ereignet hat, bleibt bis heute unaufgeklärt.

Eine Staatsräson

Solange der Staat die Straflosigkeit institutionalisiert und solange die Sicherheitskräfte die Befugnis dazu haben, werden sie nicht zögern, einzugreifen. Solange es die Staatsräson erlaubt, werden wir es mit weiteren Rechtsverletzungen zu tun haben. In diesem Fall wird die Gewalt der „guten Jungs“ unausweichlich bleiben.

Nedim Türfent hat diesen Brief am 4. Februar 2019 verfasst.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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