Bremer Literaturpreis 2023: Zeitdehnungen mit Gerüst

Die Verleihung des Literaturpreises wurde auch 2023 hochtrabend aufgezogen. Inmitten des ganzen Protzes steht plötzlich eine Baustelle.

Die Preissträger stehen mit dem Bürgermeister und weiteren Personen im Bremer Rathaus

Der Preis ist heiß: Thomas Stangl (2.v.r.) im Bremer Rathaus Foto: dpa/Senatspressestelle

BREMEN taz | Die Sonne ist gefühlt gerade aufgegangen, der zweite Kaffee kann den Appetit nicht mehr stillen. Es ist Mittag. 12 Uhr, um genau zu sein. Ar­beit­neh­me­r*in­nen haben die ersten drei Stunden erbeutet – ich finde mich im Bremer Rathaus ein. Der Bremer Literaturpreis wird verliehen.

Es geht vorbei an prolligem Marmor in zu großen Fluren, der Veranstaltungssaal zeugt von rustikalem Prunk. Die Holzvertäfelungen an den Wänden erinnern an diesen einen Eichenschrank, den jede Oma zu Hause hat. Es riecht auch ein bisschen danach. Das macht den Saal allerdings nicht weniger beeindruckend. Allein die Vorstellung der Heizkosten bei diesen meterhohen Decken stimmt mich ehrfürchtig.

Was das Bild trübt, ist eine Baustelle am Ende des Raumes. Ihre Gerüste wurden immerhin liebevoll abgedeckt, zumindest zur Hälfte. Vielleicht gab es nicht genug Stoff.

Überdurchschnittlich vertretene Stoffe hingegen waren Tweet und Baumwolle, verarbeitet in Jacketts, Blazer und kleinen, dünnen Schals, gerne gestreift. Die Garderobe des Events reichte von chic (Anzug) bis hin zu mir (Jogginganzug).

Das wichtige Getuschel im Raum wird unterbrochen durch die musikalische Einlage, die die Veranstaltung begleiten wird. Katholisch sozialisiert, will ich gleich aufstehen, als das Saxofon zu spielen beginnt, bereit all meine Sünden zu offenbaren und mir den Leib Jesu andächtig reinzuscheppern. Das Rathaus, mit all dem alten Kram, Kronleuchtern und fraglicher Finanzierung, hat nun einmal etwas Sakrales.

Das Genre der Wahl wird „Creative Jazz“ genannt. Im Publikum nicken Personen anerkennend zu der nicht erkennbaren Melodie, die das Kreative ausmacht.

Und dann kommt mein Pater, der wenn nicht Brot, so doch Herzen bricht: Andreas Bovenschulte, Bürgermeister und Kultursenator, ist bereit, das Publikum zu bezirzen. Als Einstiegswitz reicht es, die „-innen“-Endung beim weiblichen Genus zu betonen – die Menge tobt.

Heine im Ratskeller

Auf Bovenschultes Rede, in der er nach bremischer Überlieferung berichtet, wie toll der Dichter Heinrich Heine sich mal im Ratskeller besoffen habe, folgt die Laudatio des Juryvorsitzenden Lothar Müller. Spätestens als er ihren Titel nennt, der da nicht „Laudatio“, sondern irgendwas mit Schatten lautet, wird klar: das wird lang.

Als Protagonist des Mittags folgt der Österreicher Thomas Stangl, der für seinen Roman „Quecksilberlicht“ den Literaturpreis erhält. In einem fantastischen Wiener Dialekt beginnt er damit, den Sinn des Schreibens zu hinterfragen. Sprache betrachtet Stangl als Werkzeug, schlimmstenfalls als Waffe.

Kulturveranstaltungen unterliegen dem ungeschriebenen Gesetz, mindestens einmal Kafka und Picasso erwähnen zu müssen, auf progressiven Veranstaltungen dann noch irgendeine Frau. Im Zweifel Ingeborg Bachmann, die 1957 den Bremer Literaturpreis erhielt. Dazwischen Verweise auf unzählige Werke, die ich niemals lesen wollte. An einem Punkt sagt Stangl: „Die Zeit dehnt sich mit dem Raum und jeder Moment ist endlos“ – ein gewagter Satz während so einer Veranstaltung.

Wunsch nach Verwandlung

Nach weiteren Lobes- und Danksagungen kommt Martin Kordić zu Wort, der den Förderpreis für „Jahre mit Martha“ erhält. Er spricht über Anpassung und den Wunsch nach Verwandlung – Kafka! Er spricht über das Entkommen aus der eigenen Herkunft, über die Klassengesellschaft.

Als ich die Veranstaltung verlasse, ist es gerade mal drei Uhr. Vieles an diesem Mittag ergibt für mich keinen Sinn. Vielleicht liegt es daran, dass ich zu wenig gelesen habe. Oder nicht das Richtige? Es ist wie die Baustelle im Raum, die ignoriert wird, obwohl sie nur halb verdeckt ist. Wie das Wippen zur Musik ohne Melodie. Ann-Christin Dieker

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