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■ Braune KriegsjustizSpäte Gerechtigkeit

Am 21.September 1994 erregte sich die CDU/FDP-Mehrheit im deutschen Bundestag über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Auspruch „Soldaten sind Mörder“ als vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt sah. Am gleichen Tag lehnten die Volksvertreter es ab, die Deserteure aus Hitlers Wehrmacht zu rehabilitieren. Heute tingelt ein General der Bundeswehr über ehrenvolle Empfänge und vergleicht das Bundesverfassungsgericht wegen dieses Urteils mit dem Volksgerichtshof. Gestern nun war die Richterin am Bundesverfassungsgericht, Renate Jaeger, in Bremen. Jaeger hat am „Soldaten-Urteil“ des BVG mitgewirkt, will aber zu der Kritik nicht mehr sagen als dies: „Wir haben die Meinungsfreiheit hochgehalten. Die gilt auch für einen General.“

Wer genau zuhörte, konnte bei Jaegers Festvortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft“ im Dienstgebäude der Staatsanwaltschaft allerdings sehr wohl mitbekommen, daß die Oberrichterin wenig von der Meinung hält, das ehrenhafte Andenken des deutschen Militärs dürfe nicht beschmutzt werden. Die Ausstellung der „Gedenkstätte deutscher Widerstand“ in Berlin dokumentiert Arbeit und Funktion des Gerichts, das zwischen 1939 und 1945 insgesamt mehr als 1400 Todesurteile über „Wehrkraftzersetzer“ ausgesprochen hat. „Die Wehrmacht war eine der Stützen des nationalsozialistischen Staates“, meinte Renate Jaeger. „Und das Reichskriegsgericht war nicht dazu da, Exzesse der Soldaten gegen die Zivilbevölkerung zu ahnden – diese waren teilweise sogar angeordnet.“ Im Gegenteil: Wer die Beteiligung am Vernichtungskrieg verweigerte , wurde schwer bestraft: „Eigenmächtiges Erschießen von Gefangenen zog in der Wehrmacht ein Disziplinarverfahren nach sich – Paketdiebstahl dagegen wurde mit dem Tode bestraft.“ Die Militärrichter machten nach dem Krieg Karriere.

Renate Jaeger weiß, wovon sie spricht: Als Richterin am Bundessozialgericht war sie 1991 maßgeblich an einem Grundsatzurteil beteiligt, mit dem erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte der Witwe eines hingerichteten Deserteurs eine Rente zugesprochen wurde. Die Kernfrage lautete: Was war „offensichtliches Unrecht“, dessen Opfer vom deutschen Staat zu entschädigen sind? Bis 1991 galt: Entschädigung nur bei einer äußerst ungerechten Verurteilung auch nach NS-Maßstäben. „Wo aber zum Tode verurteilt wurde, weil Menschen ihre Grundrechte wie Kriegsdienstverweigerung wahrgenommen haben oder einer Regung der Menschlichkeit nachgaben und einem verhungernden Gefangenen Brot zusteckten, da müssen unsere heutigen Maßstäbe gelten“, meinte Jaeger. „Zu entschädigen nach dem Bundesversorgungsgesetz sind daher gleichermaßen Widerstandskämpfer und politische Menschen, auch „Feiglinge“ und getreue Gefolgsleute in einem völkerrechtswidrigen Krieg.“

Gleiches Recht für alle also forderte die oberste Richterin. In Deutschland habe es immer „Schwierigkeiten mit dem Widerstand der kleinen Leute“ gegeben. Diesen Opfern solle nun endlich „neben Achtung und Mitgefühl auch späte Gerechtigkeit“ widerfahren. bpo

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