Brasilien unter Präsident Bolsonaro: Kultureller Kahlschlag
Jair Bolsonaro planiert die Diversität Brasiliens. Unterstützung für seinen Kampf gegen die indigene Bevölkerung findet er weltweit.
Es gibt nicht die eine brasilianische Identität, es gibt unendlich viele Identitäten und Stile, Samba und Polka, Dosenbier und Cachaça, Tapioca und Pizza, Capoeira und Rodeo, es gibt Portugiesisch, Hunsrückisch, Yoruba und Nheengatú. Und sehr viel mehr. Und nur alles zusammen ergibt das, was man Brasilien nennt. Das Land steht und fällt mit seiner kulturellen Diversität.
Aber damit soll jetzt Schluss sein. Jair Bolsonaro wurde als Präsident gewählt, um aufzuräumen. Er ist angetreten, um das „rote Gesindel“ zu vertreiben, die „Gender-Ideologie“ einzudämmen, die Mann-Frau-Kinder-Familie als normale gegen andere Lebensformen zu behaupten, die kubanischen Ärzte auf ihre Karibikinsel zurückzuschicken, die offen als notorisch kriminell diffamierten Schwarzen zu erschießen, die Geisteswissenschaften zurückzustutzen, die Naturwissenschaften zu relativieren und die „kommunistisch inspirierte“ Idee vom Klimawandel zu ignorieren, um weiter auf schonungslose Ausbeutung aller Ressourcen setzen zu können. Und noch sehr viel mehr. Alles zusammen wird Brasilien vernichten.
Am sichtbarsten wird dieser Kahlschlag vielleicht in den indigenen Schutzzonen des Amazonasraums, wo jetzt noch über 50 Sprachen der kulturellen Vielfalt der Menschen Ausdruck verleihen. Als Sprachwissenschaftler arbeite ich zum Nheengatú, einer Tupi-Sprache, die bis ins 19. Jahrhundert hinein den gesamten Amazonasraum beherrschte, sodass sie zur Bedrohung der Interessen der portugiesischen Krone und dann des brasilianischen Kaiserreichs wurde.
Ihr Verbot und die blutige Niederschlagung der Cabanagem, einer Revolte der amazonischen Gesellschaft gegen die Zentralregierung Mitte des 19. Jahrhunderts, haben sie schließlich auf circa 20.000 Sprecher reduziert. Bolsonaro macht sich nun daran, dieses Werk der Auslöschung zu vollenden.
In der Stadt zeigt sich erbarmungslos das Ende
São Gabriel da Cachoeira, die indigenste Stadt Brasiliens, liegt an einem wunderschönen Fluss. Der Rio Negro hat die Farbe eines kräftigen Assam-Tees und wird von verschieden schnellen Strömungen an kleinen Felseninseln vorbeigespült. Seine Nebenflüsse treiben enge Tunnel in eine grüne Welt vielstimmiger Geheimnisse. Der Wald scheint hier ungebrochen. Wer an diesem Fluss steht, glaubt nicht, dass Menschen ihm etwas anhaben könnten. Das Ende zeigt sich erbarmungslos in der Stadt.
Aus den Lautsprechern der Geschäfte heulen evangelikale Jesus-Christus-Ekstasen zu schmalzigen Melodien. Sie verlieren den Dezibel-Wettbewerb nur gegen das Dröhnen containergroßer Dieselgeneratoren, die mitten in der Stadt stehen und alles mit Strom versorgen. Schon am Vormittag liegen überall indigene Schnapsleichen in den vermüllten Straßen. Es stinkt nach Urin und Alkohol. In den ersten Tagen bemerke ich die vielen gelben T-Shirts, auf denen zur Reflexion über den Selbstmord aufgerufen wird. Nicht allen, die aus dem Wald hierherkommen, tut diese Stadt gut.
São Gabriel da Cachoeira ist Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks im Nordwesten, an der Grenze zu Kolumbien und Venezuela. 18 Sprachen aus fünf verschiedenen Familien werden hier gesprochen. Die Baré, Baniwa, Yanomami, und viele andere werden seit 500 Jahren und bis heute von allen möglichen Heilsbringern missioniert. Italienische Salesianer haben in ihren Missionen die indigenen Sprachen verboten und das Portugiesische durchzusetzen versucht, sodass sie das traurige Verdienst haben, als frühe Verbündete der Intentionen Brasilias zu gelten.
Was Bolsonaro hier will, hat er immer wieder deutlich gemacht: im großen Stil Gold, Lithium und Seltene Erden fördern, den Lebensraum für die Immigration aus anderen Gegenden Brasiliens erschließen und die indigenen Gruppen zu normalen Brasilianern machen, die Portugiesisch sprechen und wachstumsstiftend konsumieren. Indigene Kulturen sind für ihn prähistorische Relikte, die es zu überwinden gilt.
Martina* arbeitet für eine der NGOs, die von Bolsonaro beschuldigt werden, den Regenwald angezündet zu haben, um sich an ihm dafür zu rächen, dass er ihnen die Gelder kürzt (das hat er wirklich gesagt!). Sie erzählt mir die Geschichte des ISA (Instituto Socioambiental), das 1994 von Wissenschaftlern gegründet wurde, um die ethnografische, sprachliche, kulturelle und biologische Diversität Brasiliens zu ergründen und zu verteidigen. Durch die Förderung der Praxis und die publizistische Aufbereitung indigener Traditionen werden diese als identitätsstiftende Merkmale rekonstruiert, sodass den Menschen das Gesicht zurückgegeben wird, das ihnen die Missionare und andere kolonialistische Interventionen nehmen wollten.
Das wirkt gegen die Interessen Bolsonaros – und so hat er dann auch die finanzielle Unterstützung dieser wichtigen Institution gestoppt. Bitter ist, zu erfahren, dass es auch ausgerechnet das ISA war, das der Rückzug der Norweger und Deutschen aus dem Fundo Amazonas hart getroffen hat: Sechs Stellen mussten sie mangels Finanzierung aufgeben.
Das Ende der indigenen Autonomie
Edimar* ist ein Mitarbeiter der FOIRN (Fundação das Organizações Indígenas do Rio Negro), des Dachverbands der indigenen Gemeinden am Rio Negro. FOIRN wurde gegründet, um die Interessen dieser Gemeinden zu bündeln und gegen ihre Bedrohung zu verteidigen. Sie ist wichtige Schnittstelle zwischen den Welten und vertritt die verfassungsmäßigen Rechte der indigenen Gruppen. Die Arbeit der FOIRN erfolgt seit 2012 im Rahmen der von Bolsonaros Vorgängerin Dilma Roussef eingesetzten nationalen Richtlinien für die Umwelt- und Gebietsverwaltung von indigenen Gebiete (PGTA), die der indigenen Bevölkerung weitgehende Souveränität bei der ökonomischen, kulturellen und ökologischen Gestaltung der TI (terras indígenas) zugesteht.
Regierungsseitig wurde PGTA von der FUNAI (Fundação Nacional do Índio) vertreten. Diese Regierungsbehörde wurde eigentlich zum Schutz der indigenen Gruppen gegründet, wird jetzt aber systematisch von Bolsonaro geschwächt und zentralisiert, um sie besser kontrollieren zu können. Edimar vermutet, dass damit auch die indigene Autonomie in den TI außer Kraft gesetzt wird. Die Verwaltung der TI wird zukünftig den Dialog mit FOIRN umgehen.
Marilene* arbeitet ebenfalls in der FOIRN. Sie relativiert meine Kritik an Bolsonaro, indem sie mich lapidar darauf hinweist, dass sich bisher noch kein Präsident Brasiliens besonders für seine indigenen Menschen eingesetzt habe. Sie spricht zornig gegen die Vorwürfe vieler ihrer parentes (eigentlich Verwandte), wie man sich hier interethnisch, aber in Opposition gegen die brancos nennt, dass FOIRN den Fortschritt und damit auch den Wohlstand verhindere. Ein Dasein als Kopie des Lebens der urbanen Industriegesellschaften des Südostens will sie sich nicht vorstellen. Ihre Kampfansage an alle, die ihr das aufzwingen wollen, klingt sehr glaubwürdig.
Institutionen werden gleichgeschaltet
Rodrigo* von der FUNAI ist verunsichert und misstrauisch, weil seine Behörde personell umgestaltet wird und die lokalen Stützpunkte viele Entscheidungsrechte an die Zentralverwaltung in Brasilia abtreten musste, die von der Regierung neu gestaltet wurde. Seitdem wird in den Schutzgebieten weniger kontrolliert. FUNAI wird gleichgeschaltet und wohl bald die Interessen der Regierung gegen die Bewohner des Rio Negro durchsetzen. Rodrigo ist dabei, sich einen neuen Job zu suchen. Es ist klar, dass die Regierung Bolsonaros gegen die NGOs vorgehen muss, um ihre Interessen durchzusetzen. Das ISA, die FOIRN und die FUNAI sind Institutionen, die sich gegen die Bedrohung der Diversität und die totale Ausbeutung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Verluste stemmen.
Ich stelle mir Marilene an der Kasse eines Supermarkts vor, in dem die Baré Hamburger zum Abendessen kaufen, und Edimar als Kellner in einem Luxushotel am Ufer des Rio Negro. Mir wird schlecht. Die Vernichtung Brasiliens erfolgt als Planierung seiner kulturellen Vielfalt.
Uli Reich ist Professor für romanistische Sprachwissenschaft an der FU Berlin und bereist seit Langem regelmäßig Brasilien.
Die menschenverachtende Politik der amtierenden Regierung ist keinesfalls allein auf Bolsonaro und seine Entourage zurückzuführen. Bolsonaro ist lediglich ein rechtsradikaler Schreihals, der so gewöhnlich ist wie dumm – und brutal. Er wurde zum Präsidenten aufgebaut, um die Interessen des reaktionären Establishments und der internationalen marktradikalen Wirtschaftsordnung gegen die zarten sozialen Reformen zu behaupten, die von der Regierung Lula auf den Weg gebracht wurden. Die globale, auch deutsche Industrie und ihre politischen Ausleger jubeln ihm zu.
Da frohlockt eine Expertin des German Trade & Invest, dass die neue Regierung endlich mit dem Protektionismus der letzten Jahrzehnte Schluss gemacht und den profitablen Markt für Investitionen geöffnet hat. Ein Spezialist für Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung findet alles halb so schlimm, er habe sich nett mit der Familienministerin unterhalten können. Das größte der Konsortien, die global mit Soja und Fleisch handeln und eine Ausdehnung der entsprechenden Produktionsflächen in Brasilien einfordern, ist BlackRock. Der Vorstandsvorsitzende dieser Fondsgesellschaft in Deutschland heißt Friedrich Merz. In dieser Form der Ökonomie kommen soziale und ökologische Kosten nicht ins Kalkül.
* Alle Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.
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