Brasilianisches Kino auf der Berlinale: Der fürsorgliche Sohn
Filme von Anna Muylaert und Chico Teixeira erzählen im Panorama über Heranwachsende und ihre emotional abwesenden Eltern.
Der Swimmingpool ist eine repräsentative Größe in der Ausstattung eines südamerikanischen Bürgerhaushalts. Durch ihn definiert sich ein gewisser Lebensstil der gehobenen Klasse. Umgekehrt sind öffentliche Bäder im Stadtbild kaum bis gar nicht vorhanden.
Die Regisseurin Anna Muylaert erzählt in „Que Horas Ela Volta“ („The Second Mother“) eine Geschichte, die sich um den Pool eines solch besser gestellten Haushalts in São Paulo gruppiert. In deren Zentrum steht die Haushälterin Val (Regina Case), die einem wohlhabenden und scheinbar aufgeklärten Paar den Haushalt schmeißt und auch gegenüber dem einzigen Sohn des Hauses, Fabinho, eine sehr fürsorgliche Rolle einnimmt.
Val, die gute Fee, bewohnt in der ansonsten geschmackvoll modernistisch eingerichteten Villa eine Rumpelkammer, mit der sie völlig zufrieden ist. Die Hausbewohner haben so ihre Macken. Der schmächtige Hausherr wirkt esoterisch, nimmt Antidepressiva, gaukelt sich vor, ein Maler und Architekt (gewesen) zu sein. Tatsächlich zehrt der Frührentier und Pantoffelheld wohl vom Erbe vergangener Generationen.
Dona Barbara hat die Hosen an
Die Hosen hat seine Ehefrau, Dona Barbara, an. Die resolute Mittvierzigerin gibt die aufgeklärte „Powerfrau“. Im Kamera-Interview sagt sie am Rande des Pools sitzend irgendetwas über Design: „Stil ist, was du bist.“
Aber auch Val ist stilbewusst und hat sich wie alle anderen schön in ihre Rolle im bürgerlichen Familienidyll eingerichtet – bis Jessica eines Tages auftaucht. Sie ist die inzwischen erwachsene Tochter Vals, auf dem Lande groß geworden und will in São Paulo Architektur studieren. Sie springt tatsächlich mit Fabinho in den Pool und wird das bislang konservierte Klassen- und Gefühlsgefüge in São Paulo durcheinanderbringen.
Anna Muylaerts kleine Geschichte aus der großen brasilianischen Erzählung lebt von der hohen Kunst, die wechselseitigen Verstrickungen mit Humor und Widersprüchlichkeit darzustellen. Die Hauptdarstellerin Regina Case ist dabei allein schon den Filmbesuch wert. Als Val verkörpert sie perfekt den „einfachen“ Menschen, der sich in der alten Welt ganz wohlfühlt, aber dennoch frei genug ist, eine Entscheidung zu treffen.
Unaufgeregt poetisch
Von einer großen Wärme für die kleinen Figuren der brasilianischen Gesellschaft ist auch Chico Teixeiras Spielfilm „Ausência“ („Absence“) geprägt. Seine unter einem sanften, milchig-blauen Himmel gedrehten Bilder aus der Vorstadt São Paulos sind unaufgeregt poetisch. Matheus Fagundos spielt überragend einfühlsam den heranwachsenden Serginho, der sich zu Hause um seine ganz nette, aber leider unzuverlässige und alkoholkranke Mutter sowie den fünfjährigen Bruder kümmert. Serginho tut dies sehr fürsorglich und verantwortungsbewusst.
Als „Mann“ der Familie verdient der Jugendliche auf dem Markt als Gehilfe in rüpelhafter Umgebung den Unterhalt der Familie. Serginho hasst die blöden Schwulenwitze und ist emotional aufgewühlt: Liebt ihn die Tochter des brasilianisch-asiatischen Fischhändlers? Ist der andere Außenseiterjunge, der Parkeinweiser, wirklich sein Freund?
Sehnsucht nach Liebe
Serginho sehnt sich nach Liebe und Zuneigung, nach der des abwesenden Vaters, vielleicht sogar nach einer homosexuellen. Das Angenehme an Teixeiras gelassener Filmsprache ist, dass er vieles im Vagen hält. Serginhos Fluchtpunkt ist die Wohnung eines Lehrers, der alleine mit Hündchen lebt. „Professor, kannst du mir bitte die Haare trocknen?“ Der Lehrer kann, aber er ist sich auch seiner Rolle bewusst.
Wie bei Muylaert bleibt auch bei Teixeira die Zukunft offen. Serginho wie Val werden sich neuen Herausforderungen stellen, stellen müssen, ohne dass wir wissen, wie diese brasilianischen Geschichten ausgehen werden.