Brasilianischer Popstar Gilberto Gil: "Lateinamerika ist das Versuchslabor"
Ein Interview mit dem brasilianischen Popstar Gilberto Gil über die Relevanz von Breitband-Internetanschlüssen, Afrika und seine Amtszeit als Kulturminister.
taz: Im April 2008 sind Sie nach gut fünf Jahren als Kulturminister Brasiliens zurückgetreten. Was hat sich dadurch für Sie verändert?
Gilberto Gil: Ich kann mich wieder voll und ganz der Musik widmen. In den letzten beiden Jahren meiner Amtszeit hatte ich bereits einige Lieder komponiert, daraus ist schließlich das Album "Banda Larga Cordel" entstanden. Ich habe jetzt sogar Zeit für weitere Projekte, eines mit meinem Sohn Bem, zu dem jetzt noch Jacques Morelenbaum dazugekommen ist.
Der brasilianische Musiker Gilberto Gil, Jahrgang 1942, bewegt sich seit je im Spannungsfeld zwischen Kultur und Politik. Schon früh verschmolz er Baião, Bossa Nova, Samba mit Rock, Blues und Jazz. 1967 schockten die Tropicalistas - Gil, Caetano Veloso, Os Mutantes und andere - Fans des engagierten, aber ästhetisch konservativen Liedguts.
Auch dem Militärregime (1964-85) waren sie ein Dorn im Auge. Kosmopolit Gil blieb stets Trendsetter, Afro-Zen nannte ein Kritiker seinen Stil. 1988 wurde er in seiner Heimatstadt Salvador da Bahía Stadtrat, später trat er den Grünen bei. Von 2003 bis 2008 war er charismatischer Kulturminister der Regierung Lula. Marke und Familienbetrieb Gil werden höchst effizient von Frau Flora gemanagt.
Gilberto Gil: "Banda Larga Cordel" (Warner Brasil). Demnächst erscheint "BandaDois" (mit seinem Sohn Bem).
Am 21. 11. tritt Gil live im Haus der Kulturen der Welt (Berlin) auf.
Was bedeutet "Banda Larga Cordel"?
Banda Larga, also Breitband, ist ja die Möglichkeit, Inhalte auszutauschen - je breiter, desto höher die Nutzung und der Austausch von Dateien, desto mehr Quantität und Qualität im Cyberverkehr. In diesem Sinne ist es ein politisches Manifest. Nicht nur Brasilien, die ganze Welt muss Breitband-Internetzugang erhalten. Cordel-Heftchenliteratur wiederum ist eine wichtige Gattung der Volksliteratur mittelalterlichen Ursprungs, die in Nordostbrasilien populär ist. Sie ermöglicht die Verbreitung von Gedanken, von volkstümlicher kultureller Reflexion und war bei vielen Liedern sehr präsent, die auf der Basis dieses Herumdichtens entstanden sind, das von der Cordel-Literatur kommt.
"Não Tenho Medo da Morte" (Ich habe keine Angst vor dem Tod) heißt ein Lied. Denken Sie oft an den Tod?
Fast ständig.
Warum?
Der Tod rahmt das Leben ein, er ist am menschlichen Horizont. Das kommt, wenn man sich ernsthaft mit Fragen der Endlichkeit auseinandersetzt. Da wir alle dazu bestimmt sind, uns der Endlichkeit zu stellen, müssen wir die endliche Zeit, die uns gegeben ist, unendlich leben.
In Ihrem Song "O Oco do Mundo" (Das Ende der Welt) erscheint eine ungewöhnlich pessimistische Weltsicht.
Das gilt nur, wenn das Leben von der tiefen Spiritualität getrennt ist, vom Sinn des Erhabenen, der die Anwesenheit des Menschen auf der Welt prägen sollte. Wenn das Leben reiner Materialismus wird, Ehrgeiz, Macht, wenn der Mensch die klare Vision des Spirituellen verliert, dann fällt er in ein schwarzes Loch.
In "La Renaissance Africaine" heißt es, Afrika sei "der Schlüssel zur echten Konstruktion der zivilisierten Welt". Wie ist das gemeint?
Das hängt mit der Haltung der Kolonisatoren zusammen, die Afrika unterworfen und seine Reichtümer geraubt haben. Es ist der Kontinent, der die Techniken der Viehzucht, der Metallverarbeitung, des Fischfangs, des Hausbaus noch vor Europa und Asien entwickelt hatte. Afrika ist jedoch nicht wirklich als Wiege der Menschheit anerkannt. Doch das ändert sich, auch wegen der schwarzen Diaspora in Brasilien, in den USA, der Karibik und Europa. 1977 war ich zum ersten Mal in Afrika als Gast beim Festival der Schwarzen Künste in Lagos. Ich habe dieses Festival der Négritude intensiv erlebt, auch wegen der intensiven Debatten über Musik, Kultur und Religion. Dort habe ich auch Fela Kuti und Stevie Wonder kennengelernt.
Zu Beginn Ihrer Karriere war Rock n Roll ein wichtiger Einfluss, wie ihr Song "Chuck Berry Fields Forever" andeutet.
Rock n Roll brachte neue Haltungen, mehr Freiheit, Lust auf Veränderung. Die Afroamerikaner haben den Übergang vom Blues über den R&B zum Rock n Roll bereitet, man denke nur an Muddy Waters oder eben Chuck Berry. Später haben das weiße Bands wie die Rolling Stones weitergeführt. Heute haben wir eine sehr starke Rockszene in Brasilien, mit Verästelungen zum Pop, zur Samba, zu den ursprünglichen brasilianischen Musikformen.
Ihr Song "Domingo No Parque" ist ein Meilenstein der brasilianischen Popgeschichte. Er ist 1967 entstanden, als sie sich den Tropicalisten angeschlossen hatten. Worum ging es im "Tropicalismo"?
Wir wollten das, was aufsässige Jugendliche in den USA und Europa mit ihrer Rebellion verändert hatten, auch für Brasilien nutzen, ob im Pop oder auf dem Gebiet des Films. Mit Tropicalismo haben wir den alten Kulturkanon dekonstruiert. Wir hatten die globale Dimension der brasilianischen Kultur schon damals verstanden.
Das Militärregime reagierte hart.
Dafür sind Diktaturen auch da, sie sind die reaktionäre Dimension des menschlichen Handelns.
Als sie nach einigen Monaten aus der Haft entlassen wurden, haben Sie "Aquele Abraço" geschrieben …
Da war ich schon halb in London im Exil. Es war ein Abschiedsgruß, eine Geste der Dankbarkeit an das Volk, die brasilianische Seele, ein Gruß an Rio de Janeiro, die Trommel des brasilianischen Orchesters.
Und dann kehrten Sie 1974 zurück, mitten in die bleiernen Jahre der Diktatur, und schrieben "Cálice".
"Cálice" habe ich mit Chico Buarque geschrieben, es wurde von der Zensur verboten. Aber meine Rückkehr wird am besten durch einen anderen Song charakterisiert: Die Wahrnehmung des Wandels, das war "No Woman, No Cry". Das war der Beginn einer Öffnung für Demokratie.
Ab 2000 haben Sie sich der Musik des Nordostens zugewandt - warum?
Dort sind ja meine Ursprünge. Ich bin im Landesinnern von Bahia aufgewachsen, im Sertão. Es ist ein karges Land mit einer reichen Musikkultur, die mich geprägt hat. Regionale Künstler wie Luiz Gonzaga oder Jackson do Pandeiro sind singende Gitarristen. Ihr Spiel erinnert an die steppenartige Landschaft der Caatinga. Über den Soundtrack zu dem Film "Eu, Tu, Eles" habe ich wieder an meine eigene Geschichte angeknüpft. Ich habe auch ein Album mit Songs aus dem Repertoire von Luiz Gonzaga aufgenommen, bin durch den Nordosten getourt. Das ist und bleibt mein großer Bezugspunkt.
Was ist besonders an der Musik aus Bahia?
Der Baião-Rhythmus, die arabischen Elemente der Rhythmik. Das Akkordeon ist sehr wichtig, weil es die nordöstliche Musik mit der ganzen europäischen Bauernmusik aus Italien, Frankreich und Deutschland verbindet. Deswegen war auch das Akkordeon das erste Instrument, das ich gelernt habe.
Bereits 1967 haben Sie mit "Soy Loco Por Tí, América" eine Hymne auf Lateinamerika komponiert. Wie beurteilen Sie die politischen Veränderungen der letzten Jahre?
Sie sind bedeutsam, vor allem nach der Überwindung der totalitären Regime, die auch durch die US-Interessen der Mitte des 20. Jahrhundert geschmiedet wurden. Heute engagieren sich die USA mehr mit einer Vision der Zusammenarbeit, des Teilens. Inzwischen regieren sozialdemokratische bis halb sozialistische Regierungen in Lateinamerika. Brasilien spielt eine immer wichtigere Führungsrolle, und der ganze Kontinent bewegt sich in Richtung eines nachhaltigen Fortschritts.
Oft sprechen Sie von einem zivilisatorischen Modell, das in Brasilien, in Lateinamerika entstehen könnte …
In Ländern wie Kolumbien, Peru oder Brasilien gibt es ein großes Völkergemisch. Die lokalen Indianer, die Afrikaner, die Europäer, die Asiaten, alle kommen beim Aufbau Amerikas zusammen. Hier entsteht eine Weltneuheit, Lateinamerika ist dafür das Versuchslabor par excellence.
Was haben Sie in Ihrer über fünfjährigen Amtszeit auf den Weg gebracht?
Wir haben eine neue Erzählung entwickelt über die breiten Beziehungen zwischen Kultur, Wirtschaft und Entwicklung, der Produktion, von der Kultur als Element zur Stärkung des Volkes. Die Verbindungen zwischen der Kultur und diversen Sektoren der Gesellschaft sind stärker geworden …
… was heftigen Widerstand der Eliten ausgelöst hat. Wie wichtig sind Autorenrechte für Sie? Sie sind ja der prominenteste brasilianische Vertreter von Creative Commons.
Technologien, mit denen man Dinge neu kombinieren kann, pulverisieren die Autorschaft. Deshalb muss das Verhältnis zwischen der Sicht des Autors und der kulturellen Produktion neu geregelt werden. Dabei geht es voran, in Brasilien und auf der ganzen Welt.
Können Sie sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen?
Nein, daran denke ich derzeit nicht.
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