piwik no script img

Boykott gegen Nestlé ausgerufen

Schweizer Multi wird Verletzung des WHO-Kodex bei der Vermarktung von Babynahrung in der Dritten Welt vorgeworfen/ Nestlé verklagt Schweizer Fernsehen wegen kritischen Dokumentarfilms  ■ Aus Basel Th. Scheuer

„Nestlé tötet Babies“ — unter dieser Parole mobilisierten Dritte-Welt- Gruppen in den siebziger Jahren schon einmal gegen den schweizerischen Nahrungsmittel-Multi Nestlé. Mit seiner aggressiven Babymilch- Werbung, so der damalige Vorwurf einer internationalen Boykottkampagne, rede der Konzern den Müttern der armen Länder das Stillen aus — zugunsten der profitablen Muttermilchersatzprodukte aus dem Hause Nestlé. Im Herbst 1984 wurde der Boykott nach sieben Jahren offiziell beendet: Nestlé hatte der Kampagne zugesichert, sich künftig strikt an den 1981 aufgestellten Kodex der UNO- Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu halten. Doch jetzt wollen entwicklungspolitische Gruppen einen zweiten internationalen Nestlé- Boykott anleiern. Sie werfen dem Konzern vor, er verstoße mit seinen aggressiven Marketingmethoden trotz gegenteiliger Beteuerungen ständig gegen den WHO-Kodex.

Säuglinge gehören an die Brust: So lautet die Leitlinie der WHO in Sachen Babyernährung. Denn WHO-Studien kamen zu dem Ergebnis, daß mit der Muttermilch auch Antikörper gegen Infektionen aufgenommen werden. Dagegen bestehe gerade unter schlechten hygienischen Bedingungen ein erhöhtes Infektions- und Todesrisiko, wenn Säuglinge nur mit industrieller Flaschennahrung ernährt würden. Mit speziellen Programmen fördert die WHO deshalb weltweit das Stillen, vor allem in den Entwicklungsländern. Nach einem WHO-Kodex darf Flaschenmilch daher nicht mit normalen Geschäftspraktiken vermarktet werden. Die WHO-Richtlinien schränken etwa die Werbung für Babymilch ein und verbieten deren kostenlose Abgabe an Krankenhäuser zu Werbezwecken. Doch genau letzteren Marketingtrick werfen Kritiker dem Konzern vor: In 45 Ländern beliefere der Multi Krankenhäuser gratis mit Milchpulver. Dadurch würden Mütter verleitet, ihre Babies von früh an mit der Flasche zu ernähren. Abhängigkeit mit gefährlichen Folgen, von Experten als „Flaschenkrankheit“ bezeichnet, sei die Konsequenz. Denn in den Hungerländern der Dritten Welt wird das Milchpulver aus Geldmangel oft viel zu stark verdünnt, Unterernährung der Säuglinge ist eine Folge. Der Mangel an sauberem Wasser sowie die Schwierigkeit, Fläschchen und Sauger keimfrei zu halten, fördern zudem Durchfall und Infektionen. Laut WHO-Statistik sterben jährlich etwa eine Million Kleinkinder an den Folgen der Flaschenernährung.

Neu entfacht wurde die „Babykiller-Debatte“ in der Schweiz anfang vergangener Woche: Das Tessiner Fernsehen strahlte den englich-ausstralischen Dokumentarfilm „Das Elend der Flaschenbabies“ aus, der den Produzenten von Muttermilchersatz vorwirft, weiterhin am Tod von Säuglingen in der Dritten Welt mitverantwortlich zu sein. An den Beispielen Pakistan und Philippinen wird gezeigt wie eine aggressive Marketingpolitik auch jenen Müttern die industrielle Ersatzmilch aufdrängt, die durchaus selbst stillen könnten. Vor allem auf den Philippinen würden Krankenhäuser und medizinisches Personal von Nestlé mit Gratispackungen und Reklame geradezu „bombardiert“. Der Konzern selbst hatte dem australischen TV- Team ein Interview verweigert.

Dagegen setzte das Nestlé-Imperium noch vor der Ausstrahlung des Filmes zum Präventivschlag an. Telefonisch wurden Schweizer Journalisten zum Presse-Briefing an den Konzernsitz nach Vevey bestellt. Dort wurde der Film als Teil einer gegen den Konzern gerichteten Kampagne gegeißelt; die Fernsehleute seien von Aktivistengruppen ferngesteuert. Gerade dort, wo viel industrielle Babymilch konsumiert werde, so sie Nestlé-Message, liege die Kindersterblichkeit deutlich niedriger als dort, wo weniger Säuglingsersatznahrung verbraucht werde. Am letzten Freitag kündigte Nestlé dann gar an, das Schweizer Fernsehen DRS wegen der Ausstrahlung zu verklagen. Am selben Tag rief eine „Arbeitsgruppe Nestlé“ zu einem neuen Konsumentenboykott aller Nestlé-Produkte auf. Der Konzern habe entgegen seiner Zusicherung von 1984 „subtil und systematisch“ den WHO-Kodex verletzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen