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Boxen in der TürkeiEuropameisterin mit 17

Außer Fußball finden Sportarten in der Türkei kaum Unterstützung. Ayten Çimentor ist trotzdem zu einer erfolgreichen Boxerin geworden.

Ayten Çimentor verwandelt sich im Ring in ein Raubtier Foto: Gülşin Ketenci

Das zarte Erscheinen, der schüchterne Blick, die Schweigsamkeit – sie täuschen. Die 17-jährige Ayten Çimentor verwandelt sich im Ring nämlich regelrecht in ein Raubtier. Obwohl die junge Sportlerin erst vor vier Jahren mit dem Boxen angefangen hat, wurde sie bereits drei Mal türkische Meisterin, 2015 belegte sie den dritten Platz bei den Box-Weltmeisterschaften der Frauen, und 2016 wurde sie Europameisterin.

Doch das reicht Çimentor nicht. Sie hat sich fest vorgenommen, bei mindestens drei Olympiaden teilzunehmen und bei jeder von ihnen Medaillen mit nach Hause zu nehmen.

Es grenzt schon an ein Wunder, dass in einem Land wie der Türkei, wo kein Sport außer Fußball zählt und wo Sportler aus anderen Bereichen regelrecht sabotiert werden, eine junges Mädchen Interesse am Boxen entwickelt. Aber selbst ihr Erfolg ist den Medien keine Meldung wert – um an Informationen über Çimentor oder andere Frauenboxerinnen in der Türkei zu gelangen, muss man ganz schön recherchieren.

Mannschaftssportarten bevorzugt

Mehveş Evin

ist Journalistin. Ihre Karriere begann 1993 bei der Tageszeitung Sabah. In den folgenden Jahren arbeitete sie für die Zeitungen Vatan, Akşam und Milliyet. 2015 verlor Evin ihren Job als Redakteurin, weil sie sich gegen Zensurmaßnahmen wehrte. Seither schreibt sie unter anderem für das Nachrichtenportal Diken.

Aber wie kommt es, dass in der türkischen Öffentlichkeit auch während der Olympischen Spiele keine Einzelsportart außer Ringkampf und Gewichtheben existiert und dass Sportler*innen einfach keine Unterstützung erhalten?

Ali Çıtak, ein Nationalsportler und langjähriger Boxtrainer des Sportvereins Fenerbahçe sieht eine Parallele zwischen Politik und Sport in der Türkei: “Es gibt sehr wenige Vereine, die sich um die Sportler*innen ausreichend kümmern. Und die wenigen, die es gibt, beschäftigen sich nur mit den eigenen Mitgliedern. Nach dem Motto: Wer nicht zu mir gehört, den unterstütze ich nicht. Amateur-Erfolge sind nur Ausnahmen.“

So wäre auch Çimentor nie auf die Idee gekommen mit dem Boxen anzufangen, wäre da nicht ihr heutiger Trainer Tuncay Tavukçu. Er kam vor ein paar Jahren an die Schule, die Çimentor besuchte, auf der Suche nach talentierten Sportler*innen. Heute, so erzählt Tavukçu, wäre eine solche Talentsuche nicht mehr möglich, da es auch in den öffentlichen Schulen keinerlei Interesse und Unterstützung mehr für sportliche Aktivitäten gäbe.

Mädchen trauen sich kaum

Ayten erinnert sich an den Tag ihrer Entdeckung: “Der Trainer fragte in die Runde, ob es jemanden gäbe, der boxen wolle. Alle Jungs meldeten sich direkt, doch von den Mädchen hob niemand die Hand. Ich wartete darauf, dass irgendein anderes Mädchen sich traute, damit ich mich auch melden konnte, doch dann war der Unterricht schon vorbei. Der Trainer gab aber nicht auf. Er fragte wieder und wieder, ob es denn kein Mädchen gäbe, dass sich für das Boxen interessiere.“

Ayten Çimentor, die an diesem Morgen von ihrem Englischlehrer mit dem Lineal Schläge auf die Hand bekommen hatte, weil sie ihre Hausaufgaben zu Hause hatte liegen lassen, saß still und wütend in der Ecke. Doch weil sie bei einem regionalen Wettbewerb für Leichtathletik bereits den ersten Platz belegt hatte, kam Tavukçu schließlich direkt auf sie zu, um sie zum Training einzuladen.

Nach dem Unterricht rannte Çimentor, damals erst 13 Jahre alt, aufgeregt nach Hause, um die schriftliche Erlaubnis ihrer Eltern für den Boxunterricht einzuholen, erzählt sie: “Meine Mutter fragte nur, ‚Boxen? Wozu? Willst du Europameisterin werden, oder was?‘, und hat es mir nicht erlaubt. Ich habe stundenlang geweint. Doch am nächsten Tag habe ich die Erlaubnis von meinem Vater bekommen, er hat unterschrieben.“

Einladung in den renommierten Sportclub

So erhält Çimentor in der Schule ihren ersten Boxunterricht. Nach ein paar Monaten lädt Tavukçu alle Schüler*innen, in denen er besonderes Talent erkennt, zum regelmäßigen Training im renommierten Sportclub Fenerbahçe ein.

Diesmal aber ist auch Ayten Çimentors Vater dagegen. Denn der Club ist sehr weit weg, der Weg dorthin ihm nicht “geheuer“. Der Istanbuler Stadtteil Çekmeköy, wo die Familie Çimentor lebt, befindet sich 30 Kilometer entfernt von Fenerbahçe. Drei Mal muss die 13-Jährige umsteigen, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen. Der Vater denkt an stundenlange Staus und sardinenbüchsenartig gefüllte Busse.

Doch Ayten Çimentor gibt nicht auf und bittet diesmal ihren Trainer um Hilfe. Er schafft es, den Vater zu überreden. Jetzt, einige Jahre später gibt Aytens Vater jedoch zu, dass er die erste Trainigswoche lang jeden Tag heimlich seine Tochter auf dem Heimweg verfolgt habe, und als er sah, dass sie im Bus “nicht einmal den Kopf hob“, sei er beruhigt gewesen. “Ich sagte, sie solle um Punkt neun zu Hause sein, und keine Minute später.“ Die Tochter folgte seinem Wort und war stets pünktlich.

Zum Training rockt Ayten täglich 30 Kilometer runter Foto: Gülşin Ketenci

“Am Anfang wurde mir schlecht auf dem langen Weg, ich musste mich oft übergeben. Manchmal habe ich vor lauter Müdigkeit meinen Kopf gegen die Bustür gelehnt und habe im Stehen geschlafen“, erzählt sie.

Das erste Mal im Ring

Bei ihrer ersten Istanbul-Meisterschaft tritt Ayten Çimentor gegen einer deutlich erfahreneren Boxerin an und verliert. “Das hat meinen Ehrgeiz vergrößert“, sagt sie heute. “Ich begann noch mehr zu trainieren, fünf, sechs Tage pro Woche, um bei den Türkischen Meisterschaften besser abzuschneiden.“

Und so besiegt Ayten schon am ersten Tag der Türkischen Meisterschaften vier Gegnerinnen mit Knock-Out. Als sie daraufhin zur Weltmeisterschaft 2015 nach Taipei darf, ist sie super aufgeregt – auch weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben fliegen wird. Nach zwei Kämpfen wird sie allerdings krank. Und schafft es trotzdem ins Halbfinale, wo sie den dritten Platz holt.

Auf die Europameisterschaft, die 2016 im türkischen Ordu an der Schwarzmeerküste stattfindet, bereitet sich die junge Boxerin ein ganzes Jahr lang vor. Als dort eine berühmte Russin als ihre Gegnerin ausgelost wird, gerät Çimentor ins Schwitzen.

Leben vom 210 Euro im Monat

Vor dem Kampf betet sie: “Ich bin in den Ring gegangen und habe Techniken ausprobiert, die ich garnicht geübt hatte. Ich habe nur die Stimme meines Trainers gehört, und kurz gesehen, wie meinem Vater Tränen in den Augen standen.“ Nach diesem Sieg und einigen weiteren wird Çimentor zum Dopingtest gerufen. Der Test fällt negativ aus und die Boxerin wird zur Europameisterin erklärt.

Çimentor, die sich dieser Tage auf die Europameisterschaft 2017 vorbereitet, hatte für ihren dritten Platz bei der Weltmeisterschaft im Jahr 2015 ein Preisgeld von 342 Euro bekommen. Für den Europameisterin-Titel bekam sie noch nichts – ihre männlichen Kollegen aus demselben Jahr hingegen wurden schon ausbezahlt.

Wie schafft es die junge Frau als Amateursportlerin überhaupt mit diesen limitierten Gehältern auszukommen? Die vom Sportclub Fenerbahçe monatlich gezahlten 600 Lira (umgerechnet 150 Euro) reichen gerade mal für Çimentors Fahrtkosten. Von einem Privatsponsor erhält sie zusätzlich 60 Euro. Das heißt: Eine Europameisterin muss von 210 Euro im Monat leben.

Bescheidene Verhältnisse

Als Ayten Çimentor zwei Jahre alt war, ist ihre Familie aus dem osttürkischen Kars nach Istanbul gezogen. Der Vater ist Maler, die Mutter Hausfrau. In ihrer Freizeit passt Ayten Çimentor auf die kleineren ihrer vier Geschwister auf, um ihre Mutter zu entlasten: “Es ist schwer, in Istanbul über die Runden zu kommen. Ich versuche, keine Last für meine Familie zu sein und werde nie vergessen, wie viel ich ihnen verdanke.“

Ayten und ihre Familie Foto: Gülşin Ketenci

Wenn sie träumt, so erzählt sie, dann geht es immer um die Olympiaden. “Ich will so sehr dorthin, dass ich jedes Mal fast am Weinen bin, wenn ich nur daran denke. Ich erzähle es dann meiner Mutter und sie spricht mir Mut zu. Aber natürlich werde ich auch nie vergessen, was sie damals gesagt hat, als ich mit dem Boxen anfangen wollte.“

Viele Sportler*innen in der Türkei hängen ihre Karriere früher oder später an Nagel, weil die materielle sowie immaterielle Unterstützung fehlt. Doch dass Ayten Çimentor es irgendwann tatsächlich zu den Olympischen Spielen schaffen wird, ist sehr wahrscheinlich.

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