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■ Bosnien-Herzegowina: Internationale Gemeinschaft kann über die scheinbar allmächtigen nationalistischen Leidenschaften triumphierenNeue Chancen für multiethnischen Staat

Gewöhnlich drückt sich in nationalen Symbolen Vertrautes aus, das das Herz erwärmt. Die Fahne, die den Olympioniken aus Bosnien-Herzegowina voranflattert, ist ziemlich weit von solchen identitätsstiftenden Signalen entfernt. Gelbes Dreieck auf blauem Grund, links umgeben von Sternchen. Gelb soll die Hoffnungssonne sein, Blau das vereinte Europa, die Seiten des Dreiecks stellen die drei Staatsvölker, Bosniaken, Kroaten und Serben, dar. Das etwas platt geratene Kunstprodukt hat in der Tat mehr die Hoffungen des „Hohen Beauftragten für den zivilen Wiederaufbau“ zum Gegenstand als irgendwelche kollektiv geteilten Emotionen der Einwohner. Aber gerade die Tatsache, daß die Fahne den Politikern der verfeindeten Lager in Bosnien vom „Hohen Beauftragten“ aufgedrückt wurde, könnte zum Geheimnis ihres zukünftigen Erfolges werden. Es könnte sich erweisen, daß eine dürre, rationale Konstruktion den Sieg davon trägt über die scheinbar allmächtigen nationalistischen Leidenschaften.

In den zwei Jahren nach Abschluß des Dayton-Abkommens schien jeder Versuch, dem Staatsgebilde Bosnien-Herzegowina Leben einzuhauchen, zum Scheitern verurteilt. Die Truppen von Ifor, später von Sfor, waren zwar erfolgreich in ihrer militärischen Befriedungsaktion. Aber sie zementierten gleichzeitig, auch durch ihre Stationierung als Puffer zwischen den verfeindeten Staatsvölkern, die Teilung des Landes. Auf der gesamtstaatlichen Ebene blockierten vor allem die serbischen Vertreter jeden Versuch der Konsolidierung.

Die Wende in dieser scheinbar hoffungslos festgefahrenen Situation brachte eine Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn im letzten Dezember. Sie ermächtigte den „Hohen Beauftragten“, den Streitparteien Fristen zu setzen und an ihrer Stelle tätig zu werden, falls eine Einigung ausblieb. Diese Befugnis hatte die zivile internationale Wiederaufbau-Behörde eigentlich schon aufgrund des Dayton-Abkommens – sie war bloß nicht wahrgenommen worden. Seit Petersberg geschieht das für unmöglich gehaltene fast täglich: eine (provisorische) Einheitswährung wird festgelegt, einheitliche Reisepäße eingeführt, dann wurden neue Auto-Nummernschilder herausgegeben, die die Herkunft des Autohalters nicht mehr verraten.

Was sind die Ursachen für diesen erfreulichen Umschwung der Verhältnisse? Zum ersten erweist sich, unglaublich aber wahr, daß die an der Jugoslawien-Katastrophe beteiligte „internationale Staatengemeinschaft“ folgende Lektion gelernt hat: Die Staatsvölker sind nicht wie unter einem blinden Fatum an die verschiedenen Nationalismen gekettet. Entschlossenes Handeln seitens Sfor und der internationalen zivilen Behörde löst nicht eine Kettenreaktion aus, die in der Wiederaufnahme bewaffneter Kämpfe mündet. Es lohnt sich, an die materiellen Interessen derer zu appellieren, die gestern noch ihren Führern ewige Treue schworen. Loyalitäten werden aufgekündigt, die monolithischen Lager beginnen sich zu spalten. Aus dem uniformen Meer tauchen erste Inseln der totgeglaubten zivilen Gesellschaft auf.

Drei außergewöhnlich tatkräftige Diplomaten, Westendorp, vor allem aber seine Stellvertreter Schumacher und Klein, nutzen das Moment der Bewegung aus. Sie machen den nationalistischen Wortführern klar: Bosnien-Herzegowina ist keine Totgeburt und die multiethnische Gesellschaft keine unverbindliche Phrase. Dabei kommt den „Hohen Beauftragten“ zugute, daß zumindest im bosniakischen Bevölkerungsteil die Bereitschaft, mit Angehörigen der anderen „Ethnien“ zusammenzuleben, niemals ganz zugrunde gegangen ist. Es mag wie eine Ungerechtigkeit erscheinen, wenn auf einer jüngst zu Ende gegangenen Konferenz gerade den Bosniaken Sarajevos zugemutet wird, bis zum Ende des Jahres 20.000 serbische Flüchtinge zu integrieren. Das ist eine Vorleistung, die das ewige „erst du, dann ich“ durchbricht. Aber diese den Muslimen aufgezwungene Vorleistung ist einfach notwendig, damit alle Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können und der multiethnische Staat überlebt.

Obwohl sie sich notgedrungen auch in symbolischen Schöpfungen versuchen, ist der Sinn der „Hohen Beauftragten“ durchaus aufs Praktische gerichtet. Jüngstes Beispiel ist die vor wenigen Tagen beschlossene Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs auf dem gesamten Territorium trotz unterschiedlicher Ansichten darüber, wem eigentlich die Bahn gehört. Praktisch ist auch das Verhältnis zu dem, was man zu realsozialistischen Zeiten „materielles Interesse“ nannte. Wer sich zur „Offenen Stadt“ erklärt, bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, dem wird entsprechend geholfen. Pragmatische Politik steckt an. Sie kann auch in Bosnien einen neuen Politikertypus hervorbringen, dem der Nationalismus der eigenen Volksgruppe nicht mehr unter die Haut geht. Der neue Ministerpräsident der „Entität“ Republika Srpska, Milorad Dodik, könnte zu den ersten Exemplaren dieser Gattung gehören.

Die Arbeit der „Hohen Beauftragten“ bedarf dringend der Unterstützung und Ermunterung durch die am Friedensprozeß beteiligten Regierungen. Westendorp und seine Leute können nicht von sich aus veranlassen, daß die prominenten Kriegsverbrecher festgenommen werden. Die „Hohen Beauftragten“ haben auch nicht die Macht, Truppen der Sfor an die Grenzen der Republik zu Kroatien und Serbien zu schicken, um den Nachschub für die jeweilige Volksgruppe aus der „Mutternation“ zu unterbinden. Auch für die Aufstellung gemischter Polizeieinheiten brauchen sie grünes Licht. Die Integration der Flüchtlinge erfordert seitens der Staatengemeinschaft nicht nur Geld, sondern auch Geduld. Vor allem Deutschland muß „seine“ Kriegsflüchtlinge noch behalten, wenn der schwierige Prozeß der Rückkehr in die Heimatorte nicht zusammenbrechen soll, ehe er richtig begonnen hat.

Aber besteht nicht die Gefahr, daß die „Hohen Beauftragten“ gerade durch ihre wohltätigen Erziehungsmaßnahmen die politischen Kräfte in Bosnien-Herzegowina entmündigen, daß ihr Werk zusammenfällt, die alten Eliten wieder ans Ruder kommen, wenn das Dayton-Mandat erlischt? Westendorp und die Seinen können unabhängige Medien, dem Recht verpflichtete Richter, einen am Gemeinwohl orientierten „civil service“ nicht aus dem Boden stampfen. Sie brauchen Truppen, Geld und Zeit, bis die geänderten Umstände ihre „normative Kraft“ entfalten. Christian Semler

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