■ Scheibengericht: Borah Bergman
(mit Andrew Cyrille)
The Human Factor
Soul Note 121212-2
Borah Bergman ist ein Spätzünder. Er war schon über fünfzig Jahre alt, als er vor ein paar Jahren seinen Lehrerjob an den Nagel hängte, um sich nur noch dem Pianospiel zu widmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon drei Soloalben veröffentlicht, war auf so renommierten Festivals wie dem Berliner JazzFest oder den Donaueschinger Musiktagen aufgetreten und hatte viel Kritikerlob eingeheimst. Damals schon ein Einzelgänger, hat er sich seitdem nur noch mehr verkrochen. Mit seinem Flügel, einem Aufnahmegerät und einem Heimtrainer- Fahrrad (um fit zu bleiben) lebt er eremitenhaft in einem Apartmenthaus am Central Park in Manhatten, auf einem Stockwerk, wo nur Musiker wohnen, schallisoliert und zu Vorzugsmieten. Sein Leben ist um den schwarzen Steinway herum organisiert. Tag für Tag verbringt er Stunden um Stunden an ihm, seine Technik perfektionierend. Wie ein Hochleistungssportler trainiert er an den Tasten mit Bleibinden an den Armen, und noch spät nachts ist ein leises Klappern zu vernehmen, das von den beiden tonlosen Keyboards herrührt, auf denen er, auf der Couch liegend, vor dem Einschlafen Fingerübungen absolviert. Borah Bergman ist ein Getriebener. Seine Obsession gilt allerdings nicht dem Piano an sich, sondern einer neuartigen Spielweise, die auf die Gleichberechtigung beider Hände abzielt — als zwei voneinander unabhängig agierender Kräfte. Seine Musik hat etwas Eruptives, wenn er mit heftigen Gesten wilde Klangkaskaden hervorschleudert, während sie auf der anderen Seite traurig-verhangen klingt, wenn er leise Töne in seiner für ihn typischen insistierenden Art wieder und wieder anschlägt.
Die Egomanie seines Spiels macht es für andere Musik schwer, sich einzuklinken, denn Bergman führt einen Tastendialog mit sich selbst. Es bedurfte eines Schlagzeugers vom Kaliber eines Andrew Cyrille, um die Selbstbezogenheit aufzubrechen. Cyrille begleitet Bergman ins Innere seiner labyrinthischen Tonwelt. Er folgt ihm bis in die letzten Windungen und Nuancen hinein. Ob aufbrausend oder feinnervig – der langjährige Hausdrummer des schwarzen Free-Jazz-Magiers Cecil Taylor ist immer mit den richtigen Trommelfiguren zur Stelle. Als Donnergott des Schlagzeugs ist er in der Lage, die Tastengewitter noch zu steigern und ihnen fast infernalische Züge zu verleihen. Auf der anderen Seite macht es ihm aber auch keine Probleme, die Ruhe vor und nach dem Sturm abgedämpft mit seinen Schlagzeugbesen und vielen Pausen spannungsvoll aufzuladen. „Jeder kann mit fünfundzwanzig Jahren Talent haben“, soll der Maler Edgar Degas einmal gesagt haben, „worauf es ankommt, ist mit fünfzig Talent zu haben.“ Borah Bergman geht auf die Sechzig zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen