Boom der Privatschulen: Das Drama vom Schulerfolg
Die Deutschen sind privaten Schulen in Hassliebe verbunden. Sie mögen sie als Experimentierkästen - aber verabscheuen sie wegen ihrer Selektivität.
POTSDAM/RECKAHN taz | Bildungsgespräche auf Schloss Reckahn. Das ist stets eine sehr würdige Veranstaltung. Die deutschen Schulbuchverleger und eine Handvoll Professoren laden sich Gäste ins Herrenhaus Friedrich Eberhard von Rochows (1734-1805). Diesmal ging es um Bildungsgerechtigkeit. Unten ist der Hausherr in Gips versunken in ein "aufgeklärtes Gespräch" mit seiner Gattin, dem Fürsten von Anhalt-Dessau und Minister Zedlitz - aber oben randaliert plötzlich einer der gelehrten Teilnehmer. Also, die Effekte der sechsjährigen Grundschule, das sei ja noch sehr offen, was da auf uns zukomme, ruft ein Professor. "Immerhin hat Brandenburg zuletzt einen steilen Abstieg in der sozialen Abhängigkeit der Bildungserfolge erlebt - trotz der sechsjährigen Grundschule."
*** Ungerecht - das ist der schwerste Vorwurf, der das Schulsystem seit Pisa 2000 trifft. Kein Industrieland verteilt schulischen Erfolg so stark nach Herkunft wie Deutschland. Am schönsten ablesbar ist das an den Chancen, das Abi zu erringen. In Niedersachsen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Akademikerkind das Abi macht, fast 5-mal (4,8) so groß wie für ein Arbeiterkind - bei gleichen Schulleistungen. Es folgen Nordrhein-Westfalen (4,5-mal so groß) und Brandenburg (4,3-mal so groß).
*** Bemerkenswert ist der Abstieg Brandenburgs, das bei Pisa 2000 die gerechteste Abiturchance hatte - damals war die Abichance für Akademikerkinder nur doppelt so hoch wie die von Arbeitern. Die Indizien sprechen dafür, dass der Gymnasial- und Privatschulboom rund um Berlin für den Abstieg verantwortlich sind. CIF
Genau so ist es. Im Jahr 2000 erreichten Brandenburgs Schüler das mit Abstand beste Ergebnis in Sachen sozialer Abhängigkeit von Schulerfolgen. Besser als irgendwo sonst in Deutschland. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Akademikerkind Abitur macht, war "nur" doppelt so groß wie die eines Arbeiterkindes. In Bayern lag der Wert beim Faktor 6,5 für die Kinder schlauer Leute.
Im Jahr 2006 nun sind die märkischen Kinder geradezu abgestürzt. Während sich Bayern (2,7-fache Chance) und andere Bundesländer stark verbesserten, ist die Abitur-Chance für High-Potential-Kids in der Mark inzwischen viermal so groß wie bei Arbeitergören. Damit ist Brandenburg durchgerutscht nach ganz unten (siehe Kasten).
Woran kann das liegen? An der sechsjährigen Grundschule, wie Walter Scheuerl behauptet, der Vorsitzende der Hamburger Elternini "Wir wollen lernen"? "Diese Abhängigkeit hat ausgerechnet in Brandenburg noch stark zugenommen, nachdem dort in den 90er-Jahren die sechsjährige Grundschule eingeführt wurde", mutmaßt er. Das scheint nicht sehr plausibel - gab es die sechsklassige Grundschule doch bereits, als Brandenburg noch Spitzenreiter bei der sozialen Gerechtigkeit war. Experten verfolgen inzwischen eine andere heiße Spur - den beinahe unheimlichen Erfolg der Bildungsbürger, ihre Kids aufs Gymnasium zu hieven.
"Es gibt einen enormen Anstieg beim Zuzug von wohlhabenden, gebildeten Leuten in den Speckgürtel", berichtet Stephan Breiding, Sprecher des Brandenburger Bildungsministers. Gleichzeitig ist ein explosiver Anstieg der Gymnasialquote zu betrachten. Im Kreis Potsdam-Mittelmark mit der heimlichen Trutzburg des Speckgürtels, dem Örtchen Kleinmachnow, gibt es Gymnasialquoten von bis zu 90 Prozent. Nicht anders in Havelland mit Falkensee und Dalgow/Döberitz. Dorthin zieht typische Gymnasialklientel, die es wichtig findet, den Nachwuchs auf die Penne zu bringen. Wer Elternversammlungen in Kleinmachnow erlebt hat, weiß, wie aggressiv und kämpferisch das Bürgertum dort Gymnasialplätze einfordert - und sich holt. "Dieser Zuzug", meint Breiding vorsichtig, "hat die normale Brandenburger Sozialstruktur aufgebrochen."
Bildungsforscher befassen sich mittlerweile genauer mit den flatternden Brandenburger Sozialwerten - und sie bestätigen die These vom Triumph der Bildungsbürger. Ihre Schicht hat den Anteil am Gymnasium in Brandenburg binnen weniger Jahre um fast 10 Prozentpunkte ausweiten können. Alle anderen Schichten stagnieren im Drang aufs Gymnasium. 2006 besuchten 62,7 Prozent der Akademikerkinder die Penne - im Jahr 2000 waren es nur 53 Prozent gewesen.
Die intellektuelle Oberschicht, so die Interpretation der Forscher des Institutes für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel, hat ihre Lektion aus Pisa gelernt. Das ist gut - aber es bringt das sensible Gleichgewicht der Bildungsgerechtigkeit sofort aus dem Lot, wenn im unteren Leistungssegement nicht ebenso große Erfolge erzielt werden. Brandenburgs Entwicklung zeigt also das Drama von Schulerfolgen und sozialer Gerechtigkeit. Besser werden allein reicht nicht. Die Schere zwischen guten und schlechten Schülern geht auf - wenn Akademikerkinder ihre Leistungen stärker verbessern als die Arbeiterkinder. So ist es rund um Berlin.
Die klugen Frauen und Männer von Reckahn nagten indes noch an einem viel härteren Kanten Brot: der Privatschule. Hilft die Privatschule der staatlichen, indem sie ihr wichtige Reformimpulse gibt? Oder reißt die Privatschule mit ihren sektiererischen Tendenzen das Schulwesens endgültig ins soziale Verderben? "Privatschulen sind eine belebende Alternative", versuchte sich die schleswig-holsteinische Ministerialbeamtin Claudia Langer im Relativieren. Einen Heiligenschein hatte sich Pater Klaus Mertes vom Berliner Canisius-Kolleg aufgesetzt. Sonderung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, das verbietet das Grundgesetz den Privatschulen. Und Sonderung - das hört auch Mertes gar nicht gerne. Er sieht sich lieber als Abgesandter eines Bettelordens denn als Leiter der besten Berliner Privatschule, die weiß Gott nicht jeden hereinlässt. "Schulen stehen im Allgemeinwohl", predigte Mertes. "Selbstverständlich kommt der Auftrag, Schule zu machen, nicht von meinen Eltern, sondern von der Gesellschaft."
Mertes und die Reckahner Gesellschaft mögen allerlei Gedanken spinnen. Das Land um sie herum ist der Beweis, wie sehr die Privatschule die Bildungsgerechtigkeit unter Druck setzen wird. Denn es scheint ja kein Zufall zu sein, dass in Brandenburg die soziale Auslese zunimmt - während zugleich die Privatschulen boomen. Die Potsdamer Schulverwalter kommen mit dem Zählen kaum nach. 158 Schulen sind in der Mark heute privat, 940 gibt es insgesamt. Macht 16 Prozent - doppelt so viel wie im Bundesdurchschnitt. Alle Schulformen der Sekundarstufe haben diesen Schnitt, nur eine überragt bei weitem: das Gymnasium. 22 Prozent aller Brandenburger Gymnasien sind bereits privat. Das ist genau jene Schulform, die das soziale Ungleichgewicht an den Schulen fördert.
Die Kieler Forscher weisen in ihrem Pisaband für das Jahr 2006 exakt aus, welche Schulformen sie getestet haben. Wie viele Privatschüler in der Stichprobe waren, ist nicht einsehbar. Auch im Bildungsministerium versucht man den Zusammenhang herunterzuspielen. "Auf den ersten Blick hat das eine mit dem anderen nichts zu tun", heißt es. Denn der Boom der Privatschulen habe erst in den letzten Jahren begonnen. "Diese Schüler sind bei Pisa noch nicht dabei."
Das ist nicht falsch. Es gibt zwar eine hohe Privatschulrate in Brandenburg, ihre Schülerzahlen aber sind davon relativ weit entfernt. Weniger als 10 Prozent der Gymnasiasten sind derzeit Privatschüler.
Beruhigen kann das dennoch kaum: Was passiert, wenn in Brandenburg die Privatschulen richtig loslegen? Wenn deren Schülerzahl die 20-Prozent-Marge erst erreicht hat, könnte Brandenburg bald einsame Spitze sein - beim sozialen Ungleichgewicht von Schulerfolgen.
In Reckahn gibt derweil Mister Canisius weiter den Heiligen. Sein Berliner Kolleg ist ja stark im Abweisen und im Abwerben von Schülern gleichermaßen. Es gehört zu jenen Schulen, die es dem Berliner Bürgertum schmackhaft machen, ihre Kinder vorzeitig aus der sechsjährigen Grundschule fliehen zu lassen. "Der Grund ist das humanistische Gymnasium", sagt Mertes unschuldig - da donnert der Saal vor Lachen. Ist es nun humanistisch, die Grundschule zu fleddern - oder wäre es nicht eher humanistisch, sie zu stärken?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt