Erst Fernsehbilder von NVA-Panzern in Kurdistan gaben den Ausschlag
: Bonn stoppt Hilfe für türkische Armee

■ Das Auswärtige Amt zweifelt nicht mehr am Einsatz deutscher Waffen in Türkisch-Kurdistan. Laut Nato-Vertrag dürfen sie nur im..

Bonn stoppt Hilfe für türkische Armee Das Auswärtige Amt zweifelt nicht mehr am Einsatz deutscher Waffen in Türkisch-Kurdistan. Laut Nato-Vertrag dürfen sie nur im Verteidigungsfall gegen äußere Feinde eingesetzt werden. Genscher stoppte gestern sämtliche Rüstungslieferungen.

In Diyarbakir setzten sich am Mittwoch 300 Panzer und Busse mit Kommandoeinheiten in Bewegung. Am Ortsausgang schlugen sie die Richtung Cizre ein, das seit Wochenanfang unter Ausgangsverbot steht. Beobachtet wurden die Militärs von Mitgliedern einer deutschen Delegation, die zu den letzten Ausländern gehören, die jetzt noch in Kurdistan ausharren. Immer wieder hatten Kurden aus der Region die Menschenrechtler und Politiker nach dem Beginn der massiven Militäreinsätze gegen die Zivilbevölkerung am vergangenen Samstag angefleht: „Laßt uns nicht mit den Türken allein.“

Gestern morgen waren die Panzer in Cizre angekommen. Seither patrouillieren sie durch die Straßen und Plätze, während Sicherheitskräfte jedes einzelne Haus der Stadt durchkämmen. Ein paar Kilometer weiter erklärten die türkischen Behörden die grenznahe Stadt Silopi und Umgebung gestern zum „totalen Sperrgebiet“ mit „absolutem Ausgehverbot“. Niemand darf mehr in das Gebiet ein- oder ausreisen. Die in der Stadt verbliebenen Journalisten erhielten vom Stadtrat Cavit Erdogan die schriftliche Aufforderung, das Hotel in ihrem „eigenen Sicherheitsinteresse“ nicht zu verlassen und ja keine Kameras zu benutzen.

Während im Südosten des Landes die Panzer rollten, kündigte am Mittwoch nachmittag der türkische Premierminister Demirel in Ankara an, sein Land werde die gesamte Grenze zum Irak dichtmachen. Ein gleichzeitig stattfindender türkischer Luftangriff auf angebliche Stellungen der kurdischen Guerrilla-Organisation PKK im Nord-Irak unterstrich die Ernsthaftigkeit seines Vorhabens. Der daraufhin vom irakischen Botschafter in Ankara vorgetragene „förmliche Protest“ gegen die „Verletzung der territorialen Integrität“ des Irak, war fast schon eine Routinesache. Neu war nur, daß Bagdads Botschafter diesmal „bilaterale Gespräche“ mit der Türkei vorschlug. Eine Beteiligung der Kurden, um die es bei den Gesprächen vor allen Dingen gehen soll, ist damit ausgeschlossen.

In Türkisch-Kurdistan wurde unterdessen der Vorwurf gegen die deutsche Bundesregierung als wichtigste Waffenlieferantin der Türkei immer lauter. „Wir werden jetzt mit den Waffen beschossen, die ihr geliefert habt“, hörte die Hamburger Menschenrechtlerin Dietert in den vergangenen Tagen oft. Zusammen mit zehn anderen Menschenrechtlern hatte sie die Region seit dem kurdischen Neujahrsfest Newroz am vergangenen Samstag bereist. Nach ihrer Rückkehr berichtete sie gestern: „Wir haben deutsche Waffen in Cizre gesehen“, sagte sie. Einer ihrer Begleiter, der Bremer Grüne Helmke, war Augenzeuge von blutigen Auseinandersetzungen in Cizre, bei denen türkische Truppen Schützenpanzer aus Beständen der früheren DDR befehligten. — Die deutschen Beobachter bestätigten, was auch schon englische, französische und kurdische Journalisten berichtet hatten. Doch die Regierung in Bonn wollte den vertragswidrigen Einsatz der vor wenigen Monaten gratis nach Ankara gelieferten NVA- Waffen ohne türkische Bestätigung nicht glauben. Dreimal wurde deswegen der Chef der türkischen Botschaft zum Gespräch ins Auswärtige Amt bestellt. Doch die Gespräche ergaben genauso wenig Aufklärung, wie der Schriftwechsel mit Ankara. Erst die Filmaufnahmen des privaten Fernsehsenders Sat.1, die eindeutig den Einsatz von NVA-Waffen in Kurdistan zeigten, gaben gestern den Ausschlag, für die Bonner Kehrtwende: Am Mittag bestätigte Regierungssprecher Vogel, es gebe „erste Hinweise“, daß von Deutschland geliefertes Rüstungsmaterial bei den Einsätzen gegen die Kurden im Südosten der Türkei benutzt worden sei. Sollten sich diese Hinweise bestätigen, sei das eine „eindeutige Verletzung“ der Abkommen mit Ankara, denn darin sei festgelegt, daß dieses Material ausschließlich zur Abwehr eines bewaffneten Angriffes auf das Nato-Vertragsgebiet verwendet werden dürfe.

Ob gerade die in den letzten Monaten in die Türkei gelieferten Waffen der aufgelösten NVA (siehe die auf dieser Seite dokumentierte Lieferliste) überhaupt für den Verteidigungsfall gegen bewaffnete Angriffe von außen geeignet wären, scheint fraglich. Alexander Sternberg von der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ in Göttingen meint, es handele sich dabei „nahezu ausschließlich um Waffen, die besonders zur Führung von konventionellen und Bürgerkriegen geeignet sind“, darunter 5.000 Panzerfäuste (Position 1), 256.000 Maschinenpistolen (Position 3) und 500.000 Stahlhelme (Position 10). Der Pressesprecher beim Bonner Verteidigungsministerium, Vogt, bestätigte gestern der taz, daß die zehn ersten Positionen der hier dokumentierten Waffenliste mit Ausnahme der Munition bereits vollständig der Türkei geliefert wurden. Der Lieferweg der Munition kann laut Vogt nicht so einfach ermittelt werden, da sie nicht in einem Durchgang zugestellt werde. Die übrigen Waffen, darunter auch Luft-Luft- und Luft-Boden-Raketen seien Anakra bislang nur „teilweise“ zugestellt.

Über den Waffenlieferstopp hinaus, hat die Bundesrepublik noch keine weiteren konkreten Schritte gegen die Regierung in Ankara getan. Auch der von Außenminister Genscher bei der EG beantragte gemeinsame diplomatische Protest in Ankara, kam bis gestern nicht zustande. Offensichtlich haben sich die Mitgliedsregierungen der zwölf unter der Ratspräsidentschaft Portugals noch nicht auf ein Procedere einigen können.

Uneinigkeit scheint auch die Diskussion hinter den Kulissen im Bonner Regierungslager zu bestimmen: Außenminister Genscher verurteilte den Einsatz türkischer Militärs gegen die kurdische Zivilbevölkerung scharf, bezeichnete die Verfolgung der Zivilbevölkerung als „völlig unakzeptabel“ und schlug vor, die EG möge auch die KSZE einschalten. Gleichzeitig riet der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, CDU-Politiker Stercken, dringend von einer Einmischung in innertürkische Angelegenheiten ab. Selbst eine Überprüfung, ob die türkische Armee NVA-Waffen einsetze, hielt Stercken gestern morgen noch „für unangebracht“. Dorothea Hahn