■ Berlin-Korrespondenten: Blinde unter Einäugigen
Sie sind die Emporkömmlinge ihrer Zunft, die Berlin-Schreiber, Hauptstadtkorrespondenten und Kiezflaneure. Sie schreiben Reiseführer in Berlin-Verlagen, Reportagen in Hochglanzbeilagen und verdichten die bröckelnden Fassaden der Häuser am Kollwitzplatz oder Wasserturm zur Kulisse ihrer Mythen – der Prenzlauer Berg, das Viertel der marodierenden Hausbesetzer, kultigen Künstler oder toughen Trendsetter – je nach Bedarf.
Besonders gefragt sind die Berlin-Schreiber, wenn es im Kiez mal wieder kracht. Dann beschreiben sie in Expertenprosa die „Ursachen der Gewalt“ oder glänzen als Rechercheure mit Berichten über die Migrationsströme autonomer Flüchtlinge. Ergebnis ihrer „Studien“: Die gewaltbereite Szene ist von Kreuzberg in den Prenzlauer Berg gezogen. Den Mythos, den sie da herbeigeschrieben haben, schlachten sie jetzt auch gleich wieder genüßlich aus.
Geradezu fiebrig auf ein Feature aus dem sagenumwobenen Prenzlauer Berg, dieser Melange aus Montmartre, Hampton Heath und Spittelberg (wie sie es bei der Eingeborenen Daniela Dahn gelesen haben) war die Süddeutsche Zeitung. Sie hatte ihren rasenden Kurier aus Bayern, Jürgen Busche, in die Spur geschickt, auf daß er Bericht erstatte von all den „Arbeitern und Intellektuellen“, also „losem Volk“, in Deutschlands aufregendstem Kiez. Busche kam, sah und erblindete: „Die Fenster der Häuser sind alle geschlossen. Wer dahinter wohnt, ob da überhaupt jemand wohnt, ist nicht erkennbar.“ Erst vor dem Wasserturm stieß der Reporter auf „ganz kleine Gruppen“ vor „winzigen Cafés“ und entdeckte „zehn Schritte um die Ecke herum in der Rykestraße das Gebäude der Bundesgeschäftsstelle der Volksfürsorge“. Offenbar auch das ein anschlagsrelevantes Ziel der Chaoten, denn es „wird bewacht von einem einzelnen, uniformierten und schwerbewaffneten Mann, die Maschinenpistole quer vor der Brust“.
Nein, Seher sind die Berlin-Schreiber nicht, und Busche ist wohl der Blinde unter den Einäugigen. Hätte er hingesehen, der Münchener im Prenzlauer Berg, er hätte statt „Volksfürsorge“ „Volkssolidarität“ gelesen, hätte er in den Hinterhof des Hauses geschaut, hätte er dort eine Synagoge entdeckt. So aber schlenderte er durch die Schlaglöcher des Zeitgeists. Das ist der Stoff, aus dem die Mythen sind. Uwe Rada
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