■ Bisher wurde jede politische Klasse zur Beute ihrer Hybris: Die Frontlinie von Bonn bis Solingen
Bedeutsam wie die von Mitscherlich konstatierte Unfähigkeit zur Trauer ist die Bonner Unfähigkeit zur Einhaltung des Grundgesetzes. Versagte die Kriegsgeneration moralisch, erweist sich die nachfolgende politische Klasse von heute als außerstande, den Schutz von Menschenleben zu garantieren, und als unwillig zur nüchternen Analyse ihres system- wie personenbedingten Schwächezustandes.
Kaum wurde am 29. Mai der Feuertod von fünf türkischen Frauen und Mädchen bekannt, gaben die verantwortlichen Politiker pünktlich die üblichen Trauerparolen aus. Kinkel schämte sich, Kohl ließ sein Sandpapierdeutsch verbreiten, der Innenminister wagte sich vor Ort, wurde erkannt und spontan ausgebuht.
Am christlichsten stotterte Johannes Rau auf allen Kanälen herum. Der fünffache Mord geschah in seinem Bundesland, und der Genosse Ministerpräsident flatterte mit den immer deutlicher hervortretenden Engelsflügeln, bereit, ins Paradies abzuheben, statt den zur Unfähigkeit verbeamteten Staatsapparat endlich auf Trab zu bringen.
Die hohen Herren, die der besiegten DDR höhnisch in die Grube nachrufen, sie habe den Antifaschismus nur verordnet, beweisen in ewigen Ritualen, daß sie zur Verordnung des Antifaschismus unfähig und unwillig sind. Ihnen fehlen dazu guter Vorsatz, antinazistische Moral, aufklärerische Energie und endlich die klare bekennende Sprache, kurzum, ihnen fehlt jeder wahre Widerstandsgeist.
Die Deutschen müssen wissen, daß sie für die von ihnen gewählten Politiker verantwortlich gemacht werden. Egal, was die politischen Klassenoberen von Mord zu Mord an Trauerformeln und Betroffenheitsfloskeln ausschwitzen, gleichgültig wie schamlos sie ihre falsche Scham mit noch mal so falschen Worten tarnen, vor aller Welt und vor uns selbst sind sie und wir mitschuldig.
Die Morde sind die Fortsetzung der beiden deutschen Weltkriege mit anderen Mitteln. Zu denen gehört unser feiger Opportunismus, wenn wir der heutigen Rechten bescheinigen, sie sei nicht so schlimm oder nicht mehr rechts. Diese Rechte will Teilhabe an der Weltherrschaft und nutzt ihre Mittel dazu. Da sie dafür alle nationalen Potentiale benötigt, rechnet sie mit ihrer Vergangenheit nicht ab, sondern verlängert sie in Kompromissen und taktischen Finessen.
Die Morde gehören zum Programm der nationalen, rassistischen Ideologie. Dies zu verkennen, werden Politiker, Kirchenleute, Wissenschaftler angeheuert, die fleißig und wie stets guten Glaubens verkünden, die Deutschen seien gewandelt. Sie sind es auch, vielleicht in der Mehrheit. Doch die politische Klasse taktiert und traktiert die unverbesserliche Minderheit mit Asylantenhetze, Frauenfeindschaft, Kriegsmobilisierungsaktionen derart in aggressive Aggregatzustände, daß die große deutsche Volksgenossenschaft neue Chancen bekommt. Nazismus wurzelt tiefer als Rationalität.
Wer sollte dem Widerstand leisten? Die Linke liegt im selbstverschuldeten Koma. Die Liberalen entzweien sich wie stets, wenn es darauf ankommt. Die Kirchen entdecken die alte Lust der honorierten Teilhabe an der regierenden Macht und Ordnung.
Ich habe in einem langen Leben erkennen müssen, die deutsche Rechte ist mit Worten nicht erreichbar. Der angeborenen Unfähigkeit zum Antinazismus kommen Vernunft und Argumente nicht bei. Die Frontlinie Bonn– Hoyerswerda–Rostock–Mölln– Solingen wird sich ungebremst fortsetzen. Die Steigerungsraten sind vorprogrammiert wie die Wirtschaftskrise. Schon lockt das schöne Wort von der sozialen Marktwirtschaft nur Hohngelächter hervor: die asoziale Marktwirtschaft triumphiert.
Also rückt das Land nach rechts. Mit der Niederlage der deutschen Linken dominiert, was übrigbleibt, die Rechte. Das hatten wir schon mal, und die Jungmörder, die auf Hitler schwören, sprechen in ihrer Dummheit nur offen aus, was ihre erwachsenen Vorbilder träumen. Und es werden mehr. Mental blieb das Reich anno 1945 unbesiegt. Was läßt sich dagegen tun? Wird, wer gegen den Wind spuckt, nicht naß? Sind wir ewigen Warner nicht wie eh und je die winzige törichte Außenseiterminderheit?
Mag sein. Doch wurde bisher jede politische Klasse zur endlichen Beute ihrer Hybris: 1918/1945/1989 –: Wer meint, jene getarnten Wechselbälger, die, als Demokraten firmierend, das Vierte Reich ansteuern, seien ewig siegreich, der irrt sich mindestens in der Quintessenz dieses Jahrhunderts.
In Hoyerswerda räumte die Staatsmacht die belagerten Häuser von Asylbewerbern. Das siegreiche deutsche Gesindel entzündete triumphierend das Feuer von Rostock-Langenhagen. Die Staatsmacht räumte die Ruinen, leugnete ihr Versagen, begegnete einem Dutzend Nazimorden mit Gleichmut und zog erst nach dem tödlichen Brandanschlag in Mölln das Verfahren an sich. Am 28. Mai 1993 heiligte die Staatsmacht den Paragraphen 218 – die Herrschaft der Männer soll in neuem Glanz erstrahlen. Die reichen Frauen zum Abortus ins Ausland, die armen auf den Tisch der Quacksalber und eine Stricknadel in den Uterus.
Am 29. Mai, ein Tag nach dem Sieg der Staatsjuristen und Kirchendogmen, signalisierte die Bundestagsriege dem Volke die nächste Großtat. Das Grundgesetz korrigierend bis zur Unkenntlichkeit, verewigten sie das Recht auf Asyl durch dessen Abschaffung. In der darauffolgenden Nacht brannten pünktlich fünf Ausländerunterkünfte. Es gab fünf tote Frauen und Kinder sowie drei Dutzend Verletzte samt Sachschaden. So genau hatten die vielfach verstreuten NS-Untergrundmannen die Signale verstanden. In Deutschland gibt die Obrigkeit keine direkten Befehle mehr. Es genügen signifikante Worte wie „Asylantenflut“ und deren Heiligsprechung im Bundestag, schon erfüllen sich automatisch die Wünsche der Politiker, die mit dem, was sie tun, stets nur das Schlimmere verhindern wollen.
Pünktlich kommt dabei das Schimmste heraus. Am Tag danach verkünden ihre Leidensmienen vom Bildschirm wohlfeile Scham und Trauer mit Worten, die ein Volk von Verstand und Ehre nur zornig machen könnten. In Deutschland hingegen bereiten die zuständigen Leute die nächsten signifikanten Gesetze vor und die Nazis im Lande organisieren das nächstgrößere Massaker. Politiker und Mordgänger stehen in mindestens osmotischer Verbindung.
Mein Buch „Rechts und dumm“ beginnt mit folgenden drei Sätzen: „Eine alte Dummheit breitet sich in Deutschland aus: der Nationalismus. Das kleine dumme deutsche Schwein will wieder die nationale Sau rauslassen. Es möchte seine moralischen und charakterlichen Defizite durch die angeblich höherwertige deutsche Identität ausgleichen.“
Da ist leider kein Wort zu viel und keins zu wenig. Gerhard Zwerenz
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