■ Bis auf weiteres gilt: Für die Jahreszeit zu kalt. Realisten gehen inzwischen davon aus, daß es nie mehr Sommer wird. Helfen könnte allenfalls Daumen drücken fürs morgige Wetter: "Ist's Gertruden sonnig, wird's dem Gärtner wonnig": Winter
Bis auf weiteres gilt: Für die Jahreszeit zu kalt. Realisten gehen inzwischen davon aus, daß es nie mehr Sommer wird. Helfen könnte allenfalls Daumen drücken fürs morgige Wetter: „Ist's Gertruden sonnig, wird's dem Gärtner wonnig“
Winter tut weh
Nicht der November, wie einige meinen, ist der traurigste Monat, denn im November sind die rettenden Räusche der Jahreszwischenzeit nah, sondern der Februar. Und der März. Genauer: dieser März. Und wahrscheinlich auch noch der April. Rettung ist nicht in Sicht, graukalt ziehen abgestandene Nebel durch die Straßen. Schneeregen kommt vorbei. Das, was man hier Winter nennt, wird noch ein paar Monate bleiben. Oder Jahre. Wieder ein blöder Wintertag. Noch ein blöder Wintertag. Jahrelang geht das anscheinend nun schon so. Das ist schlimm. Hundert Jahre CDU; zehn Jahre Winter und ein Ende ist immer noch nicht abzusehen.
Vor dem Fenster tanzen feindlich gesinnte Schneeflocken, kleine Bauarbeiterhände frieren; starren Auges warten eingefrorene Fische darauf, daß sie wieder auftauen. Das tut weh. Auch den notleidenden Kommunen. Rohrbrüche, vereiste Wasserzähler, erfrorene Pflanzen und Bäume sind an der Tagesordnung. Straßen platzen auf, tiefe Spalten ziehen sich durch den Asphalt; das Mauerwerk an den Häusern leidet. Experten sind sich einig: viel mehr kaputt als im Vorjahr. Die genaue Schadenshöhe wird noch ermittelt. „Viele Pflanzen wie Rosen, Koniferen und Rhododendren konnten aus dem gefrorenen Boden wochenlang nicht genug Wasser ziehen. Einige sind vertrocknet oder teilweise abgestorben“, klagt Günther Langner (62) von den Gartenfreunden Berlin. Doppelt so hoch sind jedenfalls die Kosten für die Räume und Streudienste ausgefallen. Was soll's, „Geld spielt keine Rolle, da nicht vorhanden“, tröstet Ulrich Doose, Referent des Deutschen Städtetages.
Der Frühling läßt sich Zeit, trotz aller Proteste. Vor ein paar Wochen und hundert Bundesligaspielausfällen deutete sich mal kurz eine Änderung an. Ein Nachmittag schien leis' auf die Ahnung eines Vorfrühlingstages zu deuten. War wieder nichts. Kam ganz anders. „Schuld ist ein namenloser russischer Tiefdruckwirbel“, wußte Springers BZ. So sind sie nun mal die Russen. Bringt das milde Tief Viola nun einen Hauch von Frühling? Ach nein, unken Meteorologen, „der richtige Durchbruch ist das noch nicht“. Im Norden und Osten muß sowieso noch weiter gebibbert werden.
Schlimmer als das Finanzamt ist das Wetter für die Psyche: Depressionen stehen vor der Tür. „Unsre Arme hängen nieder, unsre Augen blicken traurig“ (Kafka). Weil man nicht mehr rausgehen mag, starrt man hinaus auf andere, die aus ihren Fenstern starren und verliert jede Freude am Nichtstun. Auch das Bier am Stiel, das eine Prenzlauer Molkerei auf den Markt werfen will, tröstet nur wenig. Obgleich der „Bierzapfen“ in drei Sorten erhältlich sein wird: Pilsener, Schwarzbier und alkoholfrei. Schmeckt wirklich gut! Im Sommer.
Bis dahin wird gewehleidet. Auch das Betriebsklima wird kälter, die allgemeine Anfaßfrequenz sinkt, leeren Blicks laufen Leute durch die Gegend. Bettler stellen draußen Öfen hin. Die netten Punker vor den Kaufhäusern sind verschwunden. In jedem U- Bahnwagen findet sich ein Leichengesicht. Obdachlose sterben hustend. In ihren Wohnungen beschimpfen sich die Paargemeinschaften. Schlimme Worte fallen wie: „Du alte Hure“ oder „Du Säufer“ oder auch: „Du blödes Suppenhuhn!!“. Andre streiten sich über Temperaturwerte. Verstockt behauptet D., es sei jetzt mindestens acht Grad unter Null. Dabei taut doch der festgefrorene Hundekot auf der Straße ein bißchen. So scheint es, so gehen die Tage dahin in sinnlosen Wutanfällen. Autoauffahrunfallmeldungen erheitern nur kurz.
Der Winter, der nicht enden will, wartete auch mit neuen Produkten auf, die den lukrativen Wettermarkt belebten. Findige Marketingexperten erzielten erste Erfolge im Projekt der Versöhnung des Allgemeinen mit dem Besonderen. Sie erfanden die subjektiven Kälteempfindungswerte, die sie mit Hilfe verbindlicher Zahlen objektivierten. In den hiesigen „Wetter Updates“ oder dem „Info-Wetter“ heißt es dann immer: Temperatur in Berlin: zwei Grad unter Null; subjektive Kälte: zehn Grad unter Null. Damit trug die Wetterberichtmafia der grassierenden Unlust am Winter Rechnung. Denn viel berechtigter läßt sich ja jammern, wenn das subjektive Kälteempfinden die Weihen objektiver Zahlen bekommt. In jedem Fall sind subjektive Kälteempfindungsrekorde zu vermelden.
Winter 96: Jahrelang geht das nun schon so. Wem nutzt das, fragt man sich da, was sagt die Politik, und warum schweigen die Medien, die jeden Sommer mit tausend Schlagzeilen begleiten? Mit der Dauer des Winters sinkt jedenfalls seine allgemeine Akzeptanz. Widerstand formiert sich. Gegenmaßnahmen werden getroffen: Viele trinken oder lassen sich aus Protest die Haare superkurz schneiden. Manche fahren weg und erzählen, wenn sie zurückgekommen sind, vom Schnee auf Teneriffa. Andere sitzen monatelang in ihrer Wohnung und denken sich merkwürdige Worte aus, in denen jeder Vokal genau einmal vorkommt. Zum Beispiel: Toleranzmischung, Ritualmorde, Killermordslustspaß, Schlittschuhkantenrost, Intoleranzfurcht, Wangenrottussi, Optimalbusen, Genitaltumor oder Spionageclub.
Arg schönfärberisch, gar zynisch wirkt die Rede vom angeblichen Frühlingsanfang. Ungläubig hören Kinder den Alten zu, die von warmen Tagen berichten. Realisten gehen inzwischen davon aus, daß es nie mehr Sommer wird. Detlef Kuhlbrodt
Fotos: Paul Langrock/Zenit, Reuter, Roland Pfeiffer
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