Birte Müller Schwer mehrfach normal: Mit dem Wort „Arschloch“ geht immer was
Ohne Lautsprache zu kommunizieren, ist eine Herausforderung – nicht nur für unseren Sohn Willi, sondern auch für sein Umfeld. Ich bin froh, dass Willi es der Welt nicht übel nimmt, dass sie ihn so selten versteht. Als Eltern begreifen wir noch am ehesten, was sein enthusiastisches Sammelsurium von Lauten und Bewegungen bedeuten könnte. Aber oft haben selbst wir trotz mehrfacher Nachfrage keinen Plan, was Willi meint. Manchmal sage ich ihm das und manchmal stimme ihm einfach auch begeistert zu.
Da Willi schon groß ist, will er sich in der Öffentlichkeit lieber mit anderen Menschen unterhalten als mit seiner Mudda. Die besten Gespräche hat er dabei oft mit Menschen, die kein Deutsch sprechen. Auch hat er Schwarze Menschen als besonders kommunikationsfreudig im nonverbalen Bereich für sich entdeckt. Da darf sogar berührt werden, was ja sonst Tabu ist.
Wenn Willi es sich in den Kopf gesetzt hat, in der S-Bahn mit jemandem zu sprechen, der aber weiter unbewegt auf sein Handy starrt, kann er recht hartnäckig sein. Irgendwann beginnt er die Person anzutippen (obwohl er weiß, dass er das nicht soll) und wenn auch das nichts bringt, schiebt er sein breites Grinsen zwischen Gesicht und Mobiltelefon und erzwingt Augenkontakt.
Gnadenlos redet er dann verzückt auf sein Opfer ein, zeigt Dinge und macht reichlich Gebärden. Wenn mich Willis Gegenüber zu flehentlich anblickt, übersetze ich etwas. Für die besonders Überforderten denke ich mir auch mal was Nettes aus. Willi selbst genügt es völlig, wenn sein Gesprächspartner lächelt und nickt. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt.
Bleiben die Gesichter stumpf, versucht Willi es mit Tier- und Pupsgeräuschen oder klopft an die Scheibe, während ich versuche, ihn zu überreden, den Platz zu wechseln. Denn wenn Willi weiter ignoriert wird, rülpst er leider gerne laut – dafür gibt es auf alle Fälle Aufmerksamkeit.
Willi hat auch eine elektronische Sprechhilfe (ein Tablet mit Symbolen, die gesprochen werden, wenn er sie antippt). Solange er es nicht einfordert, gebe ich ihm das Teil in der Bahn allerdings nicht. Er würde neben seinem Quatsch-Repertoire („Ich möchte BH. Ich möchte Pumps“) womöglich mit dem Wort „Arschloch“ auftrumpfen. Damit geht immer was.
Ich bin sicher, dass Willi es nicht als Schimpfwort meint. Vielmehr fasziniert ihn der große Eindruck, den es allerorts macht. Ich wurde oft aufgefordert, dieses Wort aus seiner Sprechhilfe zu löschen. Aber ich finde nicht, dass ich das Recht habe, Willi ein Wort wegzunehmen, nur weil es uns nicht passt, dass er es benutzt.
Neulich mussten wir feststellen, dass Willi das A-Wort auch sprechen kann. Auf einer Party wurde laut der Ärzte-Song „Schrei nach Liebe“ mitgesungen und Willi rief in die Pause am Ende des Refrains „Arschloch“ – mit Erfolg bei seinem Publikum. Seitdem hat er es oft wiederholt, doch ohne den Kontext ist es glücklicherweise nur schwer verständlich. Wir suchten trotzdem einen Anlass – außerhalb eines Punkrock-Songs – zu dem Willi das Wort passend anbringen kann.
Diesen fanden wir tatsächlich in seinem Lieblingsfilm „Blues Brothers“. In den Szenen, in denen der Führer der Nazi-Partei auftaucht (Uniform, Hakenkreuzbinde, Hitlergruß) haben wir erklärt, dass das ein Arschloch sei. Nun ruft Willi begeistert vor und in jeder Szene, in der die Nazis auftauchen „Aslooooo“ und wir können das guten Gewissens bestätigen.
Manchmal frage ich mich allerdings, was wohl passiert, wenn Willi wirklich mal einem dieser ganz Schlimmen begegnet, ihn entzückt „Aaaaslooooch“ rufend an sich drückt, um dann mit ihm zu seiner schönen Marschmusik zu tanzen.
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