Biografie über David Foster Wallace: In der Wüste der Mikrostruktur
Hochkultur im Grunge-Outfit: D.T. Max hat die unverzichtbare Biografie über den großen amerikanischen Bildungsbürger David Foster Wallace geschrieben.
In den USA – so will es ein Vorurteil des deutschen Bildungsbürgertums – gibt es kein Bildungsbürgertum; und außerhalb von New York und Los Angeles eh nicht viel Kultur. Beides stimmt nicht. Im Gegenteil. Die sozusagen idiosynkratische Finanzierung von Bildung und Kultur durch Mäzene und Sponsoren in Amerika hat dazu geführt, dass viele der bedeutendsten und originellsten Museen und Universitäten der USA auf dem platten Land liegen, oft in kleinen und abgelegenen Orten wie das Clark Art Institut in Williamstown, Massachusetts, oder das Ringling Museum in Sarasota, Florida.
Und was das Bildungsbürgertum angeht: Nirgends auf der Welt gibt es Publikationen wie den New Yorker oder die New York Review. Nirgends habe ich so riesige, wohlsortierte und gemütliche Provinzbuchhandlungen gesehen wie noch in ganz winzigen Städtchen Neuenglands und nirgends auf der Welt gibt es eine so lebendige Hochschätzung auch entlegener Bildungsinhalte.
Ein Beispiel: Studenten in Yale oder Amherst wissen im Zweifelsfall, was eine Katachrese ist oder was man unter einer Synekdoche versteht. Die literarische Rhetorik ist lebendig in der universitären Allgegenwart der Creative-Writing-Studiengänge. Und darin, dass Schriftsteller wie John Updike, Nicholson Baker oder David Foster Wallace ganz selbstverständlich einen Stil schreiben, in dem Echos der großen englischen Prosatradition von Thomas Browne über Gibbon, Macaulay, Emerson und Churchill bewusst und selbstständig verarbeitet sind und in zeitgenössischem sprachlichen Material weitergeführt werden.
Womit wir bei David Foster Wallace wären, dem bis heute einflussreichsten literarischen Vertreter des mittelamerikanisch provinziellen amerikanischen Bildungsbürgertums. Das traurige und zuletzt tragische Leben dieses größten Stilisten und Intellektuellen der neueren amerikanischen Nachkriegsliteratur ist jetzt zum Thema einer materialreichen, intensiv recherchierten und gut geschriebenen Biografie des New-Yorker-Autors D. T. Max geworden.
Im Bett mit Ulysses
Wallace wuchs im ländlichen Illinois auf, wo sein Vater Philosophieprofessor an der (in den USA zur Recht sehr berühmten) Urbana-Champaign-Universität war. Seine Mutter war Englischlehrerin. Wallace’ Eltern, so will es die Legende, lasen einander im Bett liegend aus dem „Ulysses“ von James Joyce vor. Die literarischen Interessen, die Lektüre und der Sprachgebrauch Davids und seiner jüngeren Schwester wurde von früh auf überwacht und systematisch gefördert.
Übrigens gleicht das amerikanische Bildungsbürgertum dem deutschen in vielen seiner habituellen Einstellungen, Ressentiments und Obsessionen. David Foster Wallace, der sensationell gute Schüler, Amherst-undergraduate, Harvard-Student, Musterabsolvent und lebenslange Professor für Creative Writing, war darin geradezu ein Musterexemplar seiner Schicht und intellektuellen Klassenlage. Die immer wache Theodor-Ickler-Sorge um die orthodoxe Orthografie und den korrekten Sprachgebrauch scheint er von seiner Mutter geerbt zu haben; seine Studenten konnten ein Lied davon singen.
Eine weitere Leitobsession der Bildungsbürgerlichkeit zeigte Wallace in seinem einerseits hemmungslos faszinierten, andererseits schuldbewusst verabscheuenden Verhältnis zur amerikanischen Populärkultur. Der fun, von dem er als Kulturkonsument nicht lassen konnte, war für Wallace mindestens so undifferenziert ein Stahlbad wie seinerzeit für Theodor W. Adorno.
Einerseits scheint er Tage und Wochen ununterbrochen vor dem Fernseher verbracht zu haben. Wichtige Arbeiten seiner non-fiction zeigen ihn als genauen Kenner der amerikanischen Pornoindustrie und ihrer Hervorbringungen. Modisch ist er die bekannteste Ikone des Grunge seit Curt Cobain gewesen. Fernsehserien und esoterische Popmusik sind ein so wichtiges Anspielungsmedium in seinem Werk wie die Philosophie Ludwig Wittgensteins.
Andererseits scheint er sich für seine Trash-Faszination zugleich auch gehasst und bestraft zu haben. „Infinite Jest“, der fiktionale Videoclip aus seinem gleichnamigen Hauptwerk (wer ihn einmal gesehen hat, kann nicht mehr aufhören, sich ihm unentwegt hinzugeben, und geht der Welt verloren), ist das Symbol einer fast selbstzerstörerisch intensiven Ambivalenz.
„What is it like to be a fucking human being“
Als ein Bildungsbürger von echtem Schrot und Korn erweist sich David Foster Wallace außerdem in seinem berühmten – durch forcierte Coolness freilich temperierten und in seiner geistesgeschichtlichen Herkunft unkenntlich gemachten – existentialistischen „Oh Mensch“-Pathos. Aufgabe echter Literatur sei es zu zeigen, „what it is like to be a fucking human being“, lautet seine kanonische Formulierung. Der ästhetisch-moralische Maximalismus, der in derlei Formulierungen steckt, ist in seiner berühmt-berüchtigten Rezension des Romans „Towards the End of Time“ des damals schon sehr alten John Updike brillant, komisch und böse ausformuliert.
Genuin bildungsbürgerlich ist es aber vor allem gewesen, dass Wallace den überdimensionierten Joyce/Musil/Pynchon-Roman – the big thing, wie er es nannte – für das einzig mögliche Medium seines menschheitserlösenden literarischen Ehrgeizes hielt.
Mit diesem Ehrgeiz war ein selbstzerstörerischer Widerspruch im Zentrum seines Werks installiert. Und eben auch in seinem Leben, das sich von den Stationen des Werks kaum und in nicht besonders interessanter Weise unterscheidet. Liefern wir die entscheidenden lebensweltlich-biografischen Bausteine in Stichworten. Bei D. T. Max kann man sie nachlesen bis zu Details wie Wallace’ psychosomatischem Schwitzen (das er durch die flamboyante Bandana-Kultur bekämpfte, die zu seinem modischen Markenzeichen geworden ist), seinen hoffnungslosen frühen Verliebtheiten, seinem strenges Berufsethos als akademischer Lehrer, seiner psychischen Krankheitsgeschichte, seinem exzessiven frühen Drogenkonsum, seinem Alkoholismus, seinen Entzugskuren, seiner offenbar glücklichen Ehe.
Man erfährt so ziemlich alles – bis zu den zahnhygienischen Sauereien, die er mit seinen Hunden veranstaltete (gelegentlich etwas mehr Information, als man sich gewünscht hätte).
Nerdiger Collegejungman
Viele Wendungen in Wallace’ Lebenslauf sind in Freuds Aufsatz „Die am Erfolge scheitern“ gültig beschrieben. Wallace konnte es zeitlebens schwer aushalten, erfolgreich und glücklich zu sein (zumindest erfolgreich ist er sehr früh und auf spektakuläre Weise gewesen). Die entscheidenden Stationen dieses kurzen Lebens sind eine Tenniskarriere als Jugendlicher (über die er wundervoll geschrieben hat und die ihn in erstaunliche Höhen der amerikanischen Jugendranglisten geführt hat), eine weitgehend normale, erfolgreiche Zeit als nerdiger Collegejungmann in Amherst, behindert allerdings durch die ersten depressiven Schübe.
Universitätsfreundschaften und -liebschaften. Die philosophische Abschlussarbeit (die literarische bestand dann in dem Manuskript seines ersten Romans „The Broom of the System“). Ein durch Depressionen und Alkoholismus vorzeitig beendeter graduate-Aufenthalt in Harvard. Der schließlich erfolgreiche Entzug. Ein Zyklus von Elektroschockbehandlungen. Eine leidlich erfolgreiche Kontrolle seiner Depressionen durch das (pharmakologisch überholte und nebenwirkungsreiche) Antidepressivum Nardil.
Lehrtätigkeiten als Englisch- und Creative-Writing-Professor am Bostoner Emerson College, an der Illinois University und schließlich eine schöne Sinekure am Pomona College in der hochfeinen Universitätskleinstadt Claremont südlich von Los Angeles: der Karriere-Jackpot. Bedeutende Literaturpreise. Die Freundschaft mit Jonathan Franzen. Kultstatus in der New Yorker Literaturszene. Groupies, Interviews. „The voice of his generation“. Der Ruhm.
Wobei Wallace eben nie nur ein Promi war, sondern immer auch ein hochskrupulöser bildungsbürgerlicher Intellektueller – nicht nur a dude, sondern immer auch a nerd –, und „diese Kombination von akademischem Prestige mit großstädtischer Popularität ist ziemlich selten und ein Grund für Wallace’ rasante Kanonisierung in den USA“, wie Christian Lorentzen in der London Review of Books schrieb. Wallace war ein schwindelerregend schnell sehr berühmt gewordener Bildungsbürger aus dem platten Illinois.
Die Biografie D. T. Max’ ist neben vielem anderen eine mustergültige literatursoziologische Fallstudie des hochdifferenzierten amerikanischen Bildungsmilieus. Und daher gerade für deutsche Literaturkenner hochinteressant. Denn sie zeichnet anhand dieser literarischen Karriere eine grundlegende Verzweiflung auch des hiesigen literarischen Lebens nach: die widersprüchliche Emanzipation der Gattung Roman aus der traditionellen literarischen Kultur.
David Foster Wallace war neben John Updike der genialste Erbe der englischen Prosatradition nach dem Zweiten Weltkrieg. Man kommt als Leser nicht heraus aus dem Staunen darüber, was er auf einer einzigen Seite (und auf so gut wie jeder seiner Seiten!) unterbringt an stilistischer Originalität, Durchdachtheit, Rhythmus, kurz: an Beherrschung der traditionellen literarischen Rhetorik seit Hortensius Hortalus, Cicero, Hazlitt, you name them.
Ein großer Künstler, der auf einer Mikroebene nicht aufhört zu amüsieren und zu belehren. Ein sensibler Beobachter, der durch alle Höllen der Introspektion und der intellektuellen Selbstkritik gegangen ist. Ein überlegener, sarkastischer Denker, der in einem Satz klügere, komischere und bedenkenswertere Dinge sagt als viele seiner Kollegen in dicken Büchern. Und nicht zuletzt a real mensch. Wallace wusste, was Verzweiflung, Menschenscheu, Einsamkeit sind. Wie man sich nachts um halb drei fühlt, wenn einen die Dämonen wecken. Wenn es nicht so bildungsbürgerlich klänge, könnte man mit gutem Recht hinschreiben, er sei ein großer literarischer Humanist gewesen.
All diese Qualitäten aber machten ihn zu einem Fremdling in einer literarischen Landschaft, die ihr Leitmedium, den Roman, so weit an die Fernsehserien, den Film, die Klatschkolumnen, den Lifestyle, kurz: das fun-Stahlbad angenähert hat, dass es nicht übertrieben ist, diese Gattung, wie Heinz Schlaffer 2002 in einem vieldiskutierten Aufsatz, als „das letzte Stadium der Literatur“ zu bezeichnen. Die zeitgenössischen Romane haben, wie Schlaffer schrieb, „das Publikum daran gewöhnt, ebenso gut auch ohne Dichtung auszukommen“. Die meisten (ein gutes Beispiel ist der neue Tom Wolfe) sind geschriebene Filme oder TV-Serien.
Der Bildungsbürger David Foster Wallace dagegen, der sich als Erbe von Joyce und Pynchon sah und mit all dem nichts zu tun haben wollte, ging als Autor entschlossen und traurig immer tiefer hinein in eine Art Wüste unendlich differenzierter Verfeinerung der erzählerischen Mikrostruktur bei vollkommener Vernachlässigung und Verwahrlosung all der literarischen Elemente, die den Leser, dieses habituell vergnügungssüchtige und undankbare Geschöpf, traditionell bei der Stange halten.
Seine beiden großen Bücher verweigern der traditionellen Lesererwartung so gut wie alles: Spannung, einleuchtende Handlung, nachvollziehbare und zur Identifikation einladende Charaktere, all das süße und süchtigmachende Zeugs, das die Hollywoodregisseure und viele weniger begabte Schriftsteller so virtuos beherrschen.
Intelligent, aufrichtig und vielleicht zu arrogant
Wallace war zu intelligent, aufrichtig (und vielleicht zu arrogant), sich zu diesen komödiantischen Tricks herabzulassen. Die definitiven, bleibenden Romane der Weltliteratur aber – „Anna Karenina“, die „Éducation sentimentale“, die „Buddenbrooks“, sogar noch der „Ulysses“ – haben ihre rhetorische Durchgearbeitetheit, ihre prosatechnischen Innovationen, ihre intellektuelle Aufrichtigkeit, kurz: ihre „ernsten“ Elemente ausbalanciert mit den „niederen“ Romanelementen der Unterhaltsamkeit (die im zeitgenössischen Literaturbetrieb mittlerweile freilich gleichsam explodiert sind).
David Foster Wallace, der die literarische Tradition in all ihren hochkulturellen Aspekten so gut kannte und so ernst nahm, hat jene ebenso traditionellen Zugeständnisse an das Unterhaltungsbedürfnis seiner Leser zumindest in seinen beiden Hauptwerken verschmäht. Ergebnis war deren monumentale, auch von den eloquentesten Fans ehrlicherweise nicht im Ernst wegzudiskutierende Unlesbarkeit.
Viel weist übrigens darauf hin, dass Wallace die komödiantische Seite des erzählerischen Handwerks einfach wirklich nicht gesehen hat. „Es fehlte im Primitiven“ – so beschreibt Thomas Mann, der von den inneren Widersprüchen des modernen Romans viel verstanden hat, im „Doktor Faustus“ die Nebenfigur einer erfolglosen Schauspielerin –, „das nun einmal in aller Kunst, bestimmt aber in der des Komödianten das Entscheidende ist, möge das nun zu Ehren oder Unehren der Kunst und in Sonderheit des Komödiantentums gesagt sein.“ Das letztliche Scheitern von „Infinite Jest“ und „The Pale King“ ist ein Scheitern bildungsbürgerlicher amerikanischer Ernsthaftigkeit an der internationalen Romankultur in ihrem kulturindustriellen Endstadium.
Die vordergründige Vorgeschichte des traurigen und scheußlichen Selbstmords in seiner Garage war Wallace’ Versuch, von Nardil und seinen Nebenwirkungen zu einem moderneren und symptomspezifischeren Psychopharmakon zu wechseln, immer ein kritischer Moment im Leben von Patienten, die jahrelang auf ein bestimmten Produkt eingestellt gewesen sind. Er hinterließ seiner Witwe die Vorarbeiten zu „The Pale King“, einem Roman über die zentrale US-Einkommensteuerbehörde, der nach dem Durchgang durch eine Unendlichkeit der Langeweile zu einem Satori ebenso unendlicher Daseins- und Beobachtungsfülle führen sollte. Eine Art Zen-Koan in Romanlänge. Ein kulturreligiöses Exerzitium, das Fragment bleiben musste.
Wer D. T. Max’ Biografie dieses großen amerikanischen Bildungsbürgers gelesen hat, kann sich von der Vorstellung nicht freimachen, dass sein Selbstmord nicht nur ein tragischer biografischer Unfall gewesen ist, sondern zugleich auch ein literaturgeschichtliches Datum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr