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Bildungslandschaft in SachsenAus für Gemeinschaftsschule?

Zurück in die Vergangenheit: Die Schulversuche werden "abgeschlossen", heißt es im schwarz-gelben Koalitionsvertrag. Eltern und Lehrer an den Gemeinschaftsschulen sind verunsichert.

Wie geht es weiter? Das weiß derzeit offenbar nicht einmal die Landesregierung genau. Bild: dpa

"Nur nicht die Eltern durch die Medien verunsichern!", bittet Schulleiterin Petra Bräutigam von der Gemeinschaftsschule Dresden-Pieschen. "Die Frage nach dem Bestand der Schule stellt sich vorerst nicht", ergänzt ihr Stellvertreter Dirk Dreyer. Beide haben Grund für ihre Beschwichtigungsversuche. "Die bisher genehmigten Schulversuche zur Gemeinschaftsschule werden abgeschlossen und evaluiert", heißt es lakonisch in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP vom Oktober. Was das konkret bedeutet, weiß derzeit offenbar nicht einmal die Landesregierung genau.

Die Gemeinschaftsschule war das engagierteste bildungspolitische Projekt der SPD in der von 2004 bis 2009 bestehenden Koalition mit der CDU. Es gelang ihr lediglich, Schulversuche in die Koalitionsvereinbarung zu schreiben, um längeres gemeinsames Lernen und individuellere Förderung zumindest ansatzweise zu verwirklichen. Eine Verankerung im Schulgesetz verhinderte die Union, und seitens der Kultusbürokratie gab es keinerlei Unterstützung für Konzepte. Elterninitiativen und Schulträger erreichten nur in neun Fällen eine Genehmigung.

Voraussetzung dafür war dann auch noch die sogenannte äußere Differenzierung des Unterrichts ab der siebten Klasse, mit der Gymnasiumskandidaten wieder separiert und so ein Teil des Gemeinschaftsschulgedankens wiederaufgehoben wurde.

Nun herrscht an sieben der neun Schulen Ratlosigkeit, oder es kommt zu massiven Protesten wie im mittelsächsischen Geithain. Dort haben sich nicht nur Elternvertreter und die Schulleitung für eine Fortführung der Gemeinschaftsschule ausgesprochen, sondern auch alle Fraktionen des Stadtrates. Die Nachbarschaftsschule in Leipzig und das Chemnitzer Schulmodell, die schon seit den Neunzigerjahren ab der ersten Klasse in dieser Form laufen, genießen eine Bestandsgarantie.

Überall ist man sehr enttäuscht von der FDP. Sie plädierte bisher für längeres gemeinsames Lernen, im Koalitionsvertrag brachte sie aber nur das Placebo einer theoretisch verbesserten Wechselmöglichkeit nach der sechsten Klasse unter.

In Dresden-Pieschen gibt man sich dennoch relativ zuversichtlich. Allerdings hört man von Kultusminister Roland Wöller (CDU) und den Regierungsfraktionen Widersprüchliches, ob die Verträge bis 2014 Bestand haben oder der Schulversuch "allmählich zu Ende geführt wird", wie der FDP-Bildungspolitiker Norbert Bläsner sagt.

Schulleiterin Petra Bräutigam will erst einmal das im Januar anstehende Gespräch mit dem Ministerium abwarten. Alle Gemeinschaftsschulen werden einzeln eingeladen. Bräutigam weiß die Eltern hinter sich. Es sind vor allem solche, die sich nicht sicher waren, ob ihre Kinder fit für das Gymnasium sind, und die deshalb auf spezielle Förderung setzen. "Wir haben Erfolg, wenn jedes Kind den ihm möglichen Abschluss schafft", fasst die Schulleiterin das Leitbild zusammen.

Davon möchte Kultusminister Wöller etwas übernehmen, um die sächsische Mittelschule mit dem Ruf der "Restschule" nicht nur verbal zur "Oberschule" aufzuwerten. Warum dann die Gemeinschaftsschule abwickeln? Das sei so, als ob die Innovationen eines neuen Automodells in den alten Typ eingebaut, der Prototyp aber verschrottet würde, spottete die Grünen-Abgeordnete Annekathrin Giegengack.

Bei einer Evaluation durch die TU Dresden schnitten die Gemeinschaftsschulen in den Kernfächern etwas besser ab als die Mittelschulen. Warum müssen staatliche Schulen so standardisiert werden, "warum folgt man nicht dem Elternwillen?", fragt Petra Bräutigam. "Die freien Privatschulen dürfen alles!"

SCHULLEITERIN PETRA BRÄUTIGAM

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19 Kommentare

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  • G
    gerd.

    @Elternvertreter

    Falls Sie noch einmal hier reinsehen sollten: Ich habe mir tatsächlich "Die autonome öffentliche Schule" von Horst Hensel per Fernleihe besorgt (kam nun aus der Bundeswehr-Uni Hamburg) und gelesen - ein hochspannender Ansatz. Wissen Sie, ob sich jemand (ggf Hr Hensel selbst) intensiv für die Realisierung eines solchen Konzept einsetzt?

  • S
    schule

    @Elternvertreter:

    > Das ist auch bundesweit der INhalt dessen, was

    > unter "längerem gemeinsamen Lernen"*, eine Schule

    > für alle etc. verstanden wird.

     

    > * es dauert länger, bis alle gemeinsam den

    > gleichen Stoff gelernt haben...

     

    Geht es nicht um (bezahlbare) Vielfalt in der staatlichen Schullandschaft, um die Kinder optimal zu fördern? Da gibt es wohl nicht eine optimale Schulform für alle. Einige sind auf einem Gymnasium durchaus richtig aufgehoben ("schneller lernen"), andere brauchen länger, sollten aber nach oben offene Bildungsmöglichkeiten behalten und andere brauchen vielleicht "besonders lange" und benötigen zur Förderung andere Schulformen.

     

    Gemeinsames lernen hat auch positive Effekte, vor allem im Bereich der sogenannten Sozialkompetenzen. Wirtschaftsvertreter fordern zwar einerseits sicheres Grundwissen, äußern aber genauso deutlich das Verlangen nach verinnerlichten erzieherischen Werten, auf deren Grundlage man dann den Auszubildenden das spezielle Fachwissen schon beibringt.

     

    Es geht also nicht nur um schnelles Durchpauken von Inhalten ... Bildung ist mehr ... und hierin kann man eine Stärke für längeres gemeinsames Lernen sehen. Ob es dann Gemeinschaftsschule oder wie auch immer heißt, ist letztlich egal, wenn es um inhaltliche Fragen der Bildungskonzepte statt um äußere Begrifflichkeiten geht.

  • G
    gerd.

    @Elternvertreter

    Das hatte ich (offensichtlich) noch nicht mitbekommen, dass die Zwangsbeschulung mit 6 wieder aufgehoben werden soll. Immerhin.

     

    Wobei aus meiner Sicht das Grundkonzept der Schule verkehrt läuft - dass von oben beschlossen wird, dass Kinder ab dem ca. siebten Lebensjahr nicht mehr weitgehend allein über ihren Lernweg entscheiden können, u.a. mit dem Erfolg, dass man ihnen grob ab der 7. Klasse wieder mühsam versucht beibringen, wie man sich Themen eigenständig erarbeitet.

  • E
    Elternvertreter

    @schule: Sehen Sie bitte hier, was in Schleswig-Holstein unter Gemeinschaftsschule verstanden wird (gesetzeskräftig seit 2007 - in unserer Landesverfassung steht dieser Begriff seit 1950, aber hatte bis zur Ummünzung durch Grüne und SPD die Bedeutung: Schule, die der Gemeinschaft gehört, heute würde man wohl öffentlich-rechtlich sagen.

     

    www.schleswig-holstein.de/Bildung/DE/Service/Schulrecht/Data/F__K/gemeinschaftsschulordnung.html

     

    (alles in eine Zeile packen!)

     

    Das ist auch bundesweit der INhalt dessen, was unter "längerem gemeinsamen Lernen"*, eine Schule für alle etc. verstanden wird.

     

    * es dauert länger, bis alle gemeinsam den gleichen Stoff gelernt haben...

     

    Wenn die Politik, besonders die KMK mit ihrem nahezu 60 Mio -Euro-Budget, es nicht einmal schafft, eine Begriffsstandardisierung für Unterrichts- und Schulmodelle zu schaffen, ist das ein Hinweis mehr, daß die Staatskünstler mit dem Thema mehr als überfordert sind.

  • S
    schule

    Die Diskussion geht am Thema vorbei.

    @Elternvertreter (4.1.): Gemeinschaftsschule hat nichts mit NS-Ideen, "keine Notengebung" und "Entindividualisierung" zu tun.

     

    www.gemeinschaftsschule-pieschen.de

     

    Es gibt Noten, es gibt Fachunterricht, es gibt Differenzierung (innere und äußere), es gibt individuelle Entwicklungsgespräche mit Eltern und Schülern, ... Gleichmacherei würde ich das nicht nennen.

  • E
    Elternvertreter

    @gerd - die zweite. Fast hätte ich Ihren Hinweis auf den Petersen-Artikel überlesen, aber das wäre ein großes Versäumnis gewesen.

     

    Neugierige suchen jetzt nur nach Petersen oder z.B. Großenwiehe im taz-Archiv.

     

    Hervorragend. Danke!

  • P
    Pädagogikstudent

    Elternvertreter, ich würde mich möglicher Weise freuen, wenn an der Universität mal jemand so spräche, wie sie das tun.

    Allerdings würden sie vielleicht recht bald als Anti-Pädagoge durchgehen, allein schon, weil sie auf Geschichte anspielen und auch noch deren Wichtigkeit so sehr mit Gewicht belasten wollen; eine Geschichte, von der diese Wissenschaft tatsächlich bisher kaum etwas gehört hat. Weder von der Geschichte all der Disziplinen, bei denen sie sich ständig wie selbstverständlich bedient (die Psychologie, die Soziologie, die Philosophie, die Psychiatrie die Ethnologie, die Medizin, die Linguistik, die Biologie usw., wovon vor allem die ersten 5 eine wahnsinnig interessante und beunruhigende Geschichte haben, Vgl F. Châtelet: "Geschichte der Philosophie Band VII - Geschichte der Sozialwissenschaften von 1860 bis heute"; Ullstein-Verlag) noch von ihrer eigenen (denn die eigene Geschichte mit all ihren Schmutzigkeiten und Ungereimtheiten hat den Namen "Schwarze Pädagogik" oder "Anti-Pädagogik", von der bestenfalls/schlimmstenfalls anekdotisch gesprochen wird "ach ja, die Frau Rutschky...". Die Pädagogik hat zwei eigene (!) Termini dafür, dass "dieses" und "jenes" eben NICHT Pädagogik ist/war, was in anderen Wissenschaften durch "Pseudo" gekennzeichnet wird: Vergangenheit ist hier also Pseudo-Vergangenheit - es ist einfach nie passiert...). Ich würde also sagen, sie brauchen sich nicht wundern, dass von den Erziehungswissenschafltern nichts neues kommt. Die Aufgabe dieser Wissenschaft ist weniger ein "freudvolles, leidenschafltiches Weiterkommen" (ich will nicht Fortschritt sagen) als vielmehr Konservierung. "Die Schule ist gut, weil...", "Die Heime sind gut, weil...", "Lehrpläne sind super, weil...und notwendig, da....", "Lernschwache Kinder haben eine geringere Intelligenz, weil...und das hat auch mit der Familie und der sozialen Schicht zu tun, denn Studien zeigten, dass...", "Der Mensch (!) wächst in 6 folgenden Moralstufen auf..., denn...", usw. ad infinitum. "Schulprobleme haben etwas mit der Methode der Schule zu tun" wäre entweder eine utopische oder eine anekdotische Behauptung, die belächelt würde; ebenso wie Pädagogik überhaupt fast nur in Heimen und Schulen stattfindet, diese mit der Methode aber nichts zu tun haben.

     

    Man lernt und lehrt und forscht am JA-Sagen, allerdings an dem JA von Zarathustras Esel: I-A. I-A.

     

    Es gibt aber durchaus sehr progressive Schulmethoden (die die Pädagogik eher verschweigt, weil "sehr radikal"): empfehlen will ich ihnen die "Sudbury Valley School" (von D. Greenberg im tologo-Verlag) (trotz einer grundsätzlichen Skepsis, die ich der Institution Schule angedeihen lassen will - denn es kann nicht sein, dass wir uns nicht mehr anders zu bilden wissen, als durch diesen Apparat!). An dieser Schule gibt es beispielsweise auch keine Noten, aber nicht, weil man entindividualiseren will (bestenfalls will man nicht, dass eine Bürokratie individualisiert), sondern weil man sagt, dass nicht die Schule über die Fähigkeiten eines Menschen entscheiden sollte, sondern die Arbeitsstelle, bei der man vorstellig werden will diese Aufgabe selbst übernehmen muss: zu entscheiden, ob jemand das gewünschte kann oder eben nicht. In der Schule soll man für und durch sich lernen, nicht für einen Beruf und durch dessen Notwendigkeit "motiviert"...

    Dieses ist nämlich ein nicht gerade marginales Problem der Notengebung: sie können ein ganzes Leben determinieren und der Lehrer und die Schule tragen alle Verantwortung dafür, gleichwohl sie sie hinterher überhaupt gar nicht mehr beeinflussen können und die Determinierungsmacht nicht mal den Lehrern gehört: sie sind nur Relais - in dieser Sicht Relais zur Aufzeichnung eines positiven "Stigma", geannant Note.

    Ebenfalls, behaupte ich nun, dienen Noten aber auch einer ökonomischen Gleichschaltung - und damit einer Zementierung ökonomischer Ungerechtigkeiten -, die dadurch positiv und "ertragreich" ist, dass sie auf ein immer gleichlaufendes, gleichschaltendes System der Notengebung bauen kann, dessen Skala von 1 bis 6 läuft und je elitärer es wird, um so feinmaschiger wird die Benotung (warum interessiert 1,15 und 1,2, aber nicht 5,75 und 5,8?). Kurz, die Wirtschaft bedient sich der Schule, steuert sie durch ihre Bedienung im Sinne eines "DIE wollen wir, DIE nicht: Fördert Mathe, NICHT Sprachen!" (keines Wegs macht das nur die Erziehungswissenschaft) und dass sie das so vortrefflich kann, liegt auch an den Noten (sicher nicht nur daran!), denn das sind die Zeichen auf den Körpern der Individuen, die Zeichen der Leistungsfähigkeit (und vornehmlich in diesem Sinne interessiert die meisten die "Bildung" oder "Kompetenz", wenn sie davon sprechen; die letzte "Human Ressource" muss genutzt werden im "Land der Wissenschaft") Noten sind Zeichen, um Aussagen der Verwertbarkeit der so Gezeichneten zu treffen, die dieser Maßen vollständiger Teil der Wirtschaft sind noch bevor sie einen Beruf erlernt haben oder auch nur einmal gearbeitet hätten (deswegen ist "ohne Zeungis" ein wirtschaftliches *und* pädagogisches Problem); und eine Wirtschaft profitiert davon, wenn dieser Schlüssel einheitlich angewandt wird, ebenso wie ein Staat davon profitiert, der daraus einen Teil seines ökonomischen Gesamtwertes zieht und somit einen Teil seiner Macht in der Ökonomie und darüberhinaus legitimiert, ebenso wie Wissenschaften davon profitieren, denn sie schaffen dadurch eine einheitliche Klassifizierung des Gegenstandes "Schüler", der auf diese Weise erforscht werden kann, in dem er - angeheftet an seine Note - Wissen über sich-und-die-Note produziert, d.h. Wissen über Notengebung-und-deren-Positivität produziert, welches dann wieder in den Plan der Schule miteinfließt ("Die Schlechten kommen aus einer sozial benachteiligten Gruppe!"

  • E
    Elternvertreter

    @gerd: Jetzt wirklich kurz: Die Zwangseinschulung aller Sechsjährigen in SH wird gerade kassiert - das Gesetzgebungsverfahren läuft.

    Zu Schulstrukturen schauen Sie mal bei Horst Hensel, "Die autonome öffentliche Schule" rein, AOL-Verlag, Lichtenau, 2001,(vergriffen, aber antiquarisch zu bekommen).

    Zur Selbstauswahl des Lernstoffs durch die Kinder: Da gehe ich mit Ihnen in keiner Weise konform.

  • G
    gerd.

    @Elternvertreter

    Die Länge stellt kein Problem dar, mit dem Lesen klappt es durchaus einigermaßen :)

    Übrigens wurde die massive Kritik an Petersen in der Zwischenzeit auch in einem taz-online-Artikel thematisiert.

     

    Die Frage nach der Förderung von Kindern, ohne sie in ein repressiv-direktes System zu stecken, ist für mich spannend und bisher nicht geklärt. Bisher erscheinen mir Ansätze am stärksten plausibel, Kinder mit weitaus mehr Rechten auszustatten und ihnen eine viel höhere Eigenverantwortung zuzugestehen, in Verbindung mit Angeboten wie "Kinderschule", Schule und anderen Lernumgebungen, die sie sich auswählen, aber ebenso ablehnen können. Problematisch ist auf der einen Seite die Unzulänglichkeit oder meines Erachtens sogar Unnötigkeit und Kontraproduktivität von Lernvorgaben, auf der anderen Seite die Abhängigkeit von Erziehungsberechtigten. Denkbar ist ebenso, solcherlei Angebote grundlegend verpflichtend zu gestalten, jedoch mit ernstzunehmenden Freistellmöglichkeiten (bspw. eigenständige Abmeldung durch Schüler/innen vom Unterricht, partiell oder komplett).

    Das Bildungswesen vom Staat abzukoppeln, mag ein weiterer Ansatz sein; hieraus folgert vermutlich, dass sich der Staat um die (Zwangs-)Bildung der Kinder nicht mehr kümmern kann, höchstens der Staat stünde weiterhin als Ordnungs- und Bewertungsinstanz über den Bildungsanbietern. Ich erkenne die Ansätze, jedoch fehlt mir die Vorstellung, wie es sich konkret ausgestalten ließe.

     

    Nun noch kurz Anmerkungen zu zwei ausgewählten Passagen:

    "Im Gegenteil, dafür soll und muß weiterhin das sog. Entwicklungsalter nach wie vor maßgebend sein."

    Nur, dass dies hier in Schleswig-Holstein wie andernorts bereits nicht mehr maßgebend ist. Rückstellungen zur Einschulung dürfen aktuell nur im Krankheitsfall für 3 Monate, mit maximal 3 Monaten Verlängerung ausgestellt werden. Die Politik beordert also alle Kinder in die ersten Klassen (oder "Eingangsstufe", die man in 1-3 Jahren durchläuft, in der es aber kein Sitzenbleien gibt - auch ganz bemerkenswert), aber stellt den Schulen und Lehrkräften keinerlei Hilfen zur Verfügung, wie sie solches auffangen sollen.

     

    Zur Schulpflicht - "es ist immer eine Frage der Verantwortung für jedes Kind, dem man Chancen gibt oder nimmt"

    Ebenso wie Ihnen ist es auch mir nur in Ansätzen möglich, Gedanken wie "Abschaffung der Schulpflicht" zu umreißen. Zumindest lassen sich Realisierungsmöglichkeiten erkennen, wenn man einmal über die Grenze nach Großbritannien, Österreich, Spanien u.a. blickt. In der Diskussion um die Schulpflicht geht es oft schnell um die Frage, ob der Staat oder die Eltern sich (vor allem im Zweifelsfällen) besser für das Kindeswohl einsetzen können - jedoch wird dabei eher selten in Erwägung gezogen, dass sich Kinder auch selbst um ihre Lernentwicklung kümmern könnten (wie z.B. in Sudbury-Schulen).

  • E
    Elternvertreter

    @ gerd (diesmal sehr viel kürzer, versprochen!) Sie haben mit der Frage nach der obligatorischen Vorschule durchaus einen wichtigen, noch zu erörternden Bereich angesprochen. Hierbei geht es darum, Kindern nicht unbedingt schon im zarten Alter von 4 Jahren Rechnen, Schreiben, womöglich auch noch mehrere Fremdsprachen beizubringen - aber doch frühzeitig nicht nur Defizite in dem Sinne zu erkennen und auszugleichen, daß viele Kinder nicht die Chance haben, das altersgerecht zu lernen, was für andere selbstverständlich ist. Das hat übrigens absolut nichts mit dem sozialen Status der Eltern zu tun, sondern mit sehr vielen anderen Dingen - von Selbstzentriertheit der Eltern(teile), deren Verständnis und Wertung von Bildung, aber auch mit dem weiteren regionalen sozialen Umfeld - bis zu individuellen körperlichen, geistigen oder seelischen Entwicklungsverzögerungen. Eine altersgerechte Förderung der Fähigkeiten, Unterstützung dort, wo andere dieses nicht leisten können oder wollen, ohne dabei repressiv-direktiv zu werden, mit dem Ziel, Schulfähigkeit herzustellen, das sehe ich als Aufgabe einer Vorschule; das Wort ist so eckig wie seine Geschichte – „Kinderschule“ wäre vielleicht eine Alternative. Keinesfalls ist dieses so zu verstehen, daß alle Kinder mit (biologischen) 6 Jahren dann homogenisiert in die Grundschule kommen sollen. Im Gegenteil, dafür soll und muß weiterhin das sog. Entwicklungsalter nach wie vor maßgebend sein. Und ganz klar: es ist keinesfalls das Ziel, alle Kinder gleich zu machen, sondern lediglich, ihnen hier, vor dem Eintritt in die „echte“ Schule, ein Gleichmaß an Chancen anzubieten. Das Spektrum der Begabungen und Fähigkeiten wird nach einer solchen Vorschule genauso breit sein wie heute, aber es wird anders verteilt sein. Wie eine solche Vorschule (die auch nicht unter staatlicher Direktive handeln soll, ein ganz anderes Thema: Die Autonomie der Schulen in Deutschland, Verweis auf "Eurydice" auf den Seiten der EU) organisiert und optimiert gestaltet werden kann und soll, könnte gut Gegenstand unterschiedlicher Versuchansätze sein, die allerdings, ähnlich wie medizinische Studien, von einem offen und transparent agierender Gremium analog einer Ethikkommission zu bewilligen wäre, mal als Idee. Also, z.B. nicht unbedingt täglich, auch nur wenige Stunden, aber genug, eben die o.g. Hilfen geben zu können, die nirgendwann sinnvoller eingesetzt werden können als gerade in dieser Entwicklungsphase. Letztlich geht es darum, die Vielfalt der Kinder, ihrer Ursprünge und Voraussetzungen frühzeitig wahrzunehmen und ihnen das beizubringen (wörtlich, Silbe für Silbe!), was als Einschulungsvoraussetzung betrachtet wird. Von der Sprache über motorische, sensorische, soziale Fähigkeiten bis zu ethischen Grundlagen. Gerade eine von Staat und vor allem Parteien entkoppelte Entwicklung des Bildungswesens halte ich für essentiell - Dem Staat möge aber weiter die Pflicht zur Bereitstellung der Voraussetzungen obliegen. - Damit habe ich sicher nicht erschöpfend geantwortet, aber ich hoffe, Sie erkennen, wie der Mensch diesseits des Bildschirms da tickt...

     

    Ad Schulpflicht: Sie beziehen sich auf das Reichsschulpflichtgesetz von 1938. Das hatte aber etliche Vorläufer, die bis auf die Reaktion auf Luthers Schrift "An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen" (1524) zurückgehen. Besonders die Einführung der Allgemeinen Schulpflicht in Preußen (1763) ist auch ein wichtiger Meilenstein. Das Manko - irgendwie hat das bis heute Bestand - war, daß das staatliche Schulangebot, sozusagen das "Gegenkonto" der Schulpflicht, bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts der Auflage des Schulbesuchs deutlich hinterherhinkte. Die Verwaltung war eben noch nie sehr schnell... :) Daß die Nazis 1938 dann dieses Gesetz erließen, war wohl zu einem großen Teil auch dadurch motiviert, daß sie damit verhindern wollten, daß andere als der Staat, also damals sie selbst, die Schule steuern wollen könnten. Andererseits, auch hier wieder eine Parallele zur Jetztzeit: Es waren genauso die Nazis, die 1944 alle deutschen Realschulen abschafften und zu Volksschulen zwangsumwandelten - einschließlich der Umstufung der Realschullehrer zu Volksschullehrern – und der Realschüler zu Volksschülern. Beachten Sie bitte, daß ich Umstufung sage, weil ich jegliche rangbildende andere Bezeichnung hier für fehlplaziert hielte. Übrigens war die Motivation zu diesem Schritt, daß man nach der Annektion Österreichs feststellte, daß jenes bislang ohne Realschulen ausgekommen war. Wer nun an die jüngste Wende in der deutschen Geschichte denkt, ist aber wirklich ein arger Schelm. Wer die Zwangsabschaffung der Haupt- und Realschulen in Schleswig-Holstein miterlebt, dem vergeht der Gedanke an Schelmereien.

    Der Frage nach dem Bestand der Schulpflicht an sich sollte mit tunlichster Behutsamkeit behandelt werden. Einfache Sätze sind hier wohlfeil – es ist immer eine Frage der Verantwortung für jedes Kind, dem man Chancen gibt oder nimmt. Und realistischerweise ist absehbar, daß Bildung im weitesten Sinne, von der manuellen Fertigkeit bis zu quantenphysikalischen Fragen (beides nicht als Begrenzung oder Wertung zu verstehen!) für ein selbstbestimmtes, dabei aber rücksichtsvoll und von ethisch-moralischen Werten geleitetes Leben, begleitet von größtmöglicher Aufklärung, wichtig bleiben. Die Konflikte, die durch ein Abweichen davon entstehen, füllen ja nun lange genug auch die Seiten der taz. Lernen und Lehren bleiben unerläßlich. Gute Ideen zu ihrer Verwirklichung bleiben immer gefragt.

  • G
    gerd.

    Hallo Elternvertreter,

    ich verstehe nicht, dass Sie einerseits die "obligatorische zweijährige Vorschule" begrüßen, andererseits die "Lufthoheit über den Kinderbetten" kritisieren, wie passt das zusammen? Die Begehrlichkeiten seitens der Politik werden insbesondere durch weitere Pflichten und Überwachungsmechanismen wie Kindergarten- oder Vorschulpflicht deutlich.

     

    Auf der anderen Seite wird die Kritik an der Schulpflicht lauter, und das zu Recht. Passenderweise haben auch die Nazis die Schulpflicht in Deutschland eingeführt - in diesem Punkt ist es aus meiner Sicht dringend geboten, Kindern und Jugendlichen die Option zu erschaffen, sich aus einem qua Konzept repressiven Schulsystem zu befreien.

  • G
    gerd.

    @Pädagogikstudent

    "und NIEMANDEN stört das ernsthaft, obwohl WIR ALLE in der Schule waren..."

    Das ist ein allgemeines Problem, dass sich junge Menschen schwer wehren können und vieles dadurch verarbeiten (oder halt nicht), dass sie später in der Elternrolle die identischen Muster anwenden. Dadurch bleibt das Weltbild unangetastet (was weniger Beschwerden verursacht) und es kann sich eine (wenn auch fragwürdige Form der) Genugtuung durch ein unbewusstes Rachegefühl ergeben.

    Lesenswert dazu: Alice Miller, u.a. "Du sollst nicht merken".

  • E
    Elternvertreter

    Ein interessantes Echo. Wohlgemerkt, mit meinem Einwurf geht es mir nicht um die inhaltliche Diskussion des vordergründig für die Rechtfertigung der Gemeinschaftsschule als Spielart der Einheits- "Schule für alle" herhaltenden Arguments der rechtzeitigen, begabungs- und leistungsgerechten Auswahl des Bildungsweges nach der Grundschule. Ich begrüße das Eintreten für einen sechsjährigen Vorlauf, wenn dieser, wie in Schweden oder in den Niederlanden z.B., eine obligatorische zweijährige Vorschule (statt der Aufbewahrung im Kindergarten) einschließt. Alle Details der Gemeinschaftsschulstruktur sind - zumindest in Schleswig-Holstein, wo sie (noch) seit 2007 im Schulgesetz festgeschriebene Angebotsschule ist, vorgetragen worden, wenn auch noch nicht von jeder/m.

     

    Es geht auch nicht um einen Nazivergleich oder eine Nazikeule (reine Muskelrhetorik), sondern um die Aufarbeitung der Frage, warum sich namentlich die heutige Linke auf ein Erziehungsstrukturmodell eines Wegbereiters des Nationalsozialismus beruft. Wer die heute noch im Handel befindlichen (und in der Ausbildung junger Erzieher und Lehrer eingesetzten) Schriften Petersens auch nur halbwegs aufmerksam liest, muß sich fragen, ob die, die seine Lehre befürworten, im Einklang mit dem Ziel einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsentwicklung stehen. Goethe, mit Verlaub, ist als Staats- und Gesellschaftstheoretiker ja ebensowenig zu ewigem Ruhm gelangt wie als Physiker (wiewohl er seine Farbenlehre für seine wichtigste geistige Leistung hielt).

     

    Also: Es geht nicht um einen NS-Vergleich, sondern um die historische Analyse, was dieses Modell einer "Schule für alle" denn eigentlich bedeutet.

     

    Alle Vertreter dieser Richtung nehmen immer wieder auf Petersen und seine Jenaplan-Schule als Urheber und Ursprung Bezug.

     

    Und da gehört es einfach zu der Sachaufklärung, deutlich zu machen, daß der Ursprung dieses Konzepts der absolute Wille Petersens (und ihm geistig nahestehender anderer) zur Verwirklichung dieser Ideen war, für die Realisierung seiner politischen Grundhaltung die Hebel und Schaltstellen zu nutzen, die er mit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft der Universität Jena 1923 zur Verfügung bekam. Man kann und darf die Grundhaltung Petersens nicht von seinem "wissenschaftlichen" Wirken getrennt sehen. Er verwirklichte in seiner Position seine Lebensidee und seine Grundüberzeugung - und nutzte, von Nazis wie dem späteren nationalsozialistischen Rektor der Heidelberger Universität, Ernst Krieck, auch Erziehungswissenschaftler, schon vor 1933 gefördert und protegiert, diese Position zur bereits erwähnten Wegbereitung. Welch genialer Trick, sich der Lehrer- und Erzieherausbildung zu bemächtigen, die übrigens sehr direkt an die Phantasie des heutigen Hamburger SPD-Vorsitzenden erinnert, der 2006 von der Eroberung der "Lufthoheit über den Kinderbetten" konfabulierte.

     

    Petersen war ein Demokratiefeind - wie viele Leute in seiner Zeit. Er fand aber schon sehr früh auch noch Gefallen an den damals, Anfang der 20er, aufkeimenden NS-Ideen und Ideologien. Und da sah er seine Chance darin, in diesem Umfeld eine Schule zu begründen, die darauf zugeschnitten war, mittels von ihm entwickelter Erziehungsmethoden (er spricht immer wieder von "Zucht") genau die Charaktere zu formen, die die gleichförmige Masse, die er „völkische Gemeinschaft“ nennt, bilden. (Leicht bereinigt) nachzulesen noch heute in dem immer noch nachgedruckten "Der kleine Jena-Plan" (Beltz-Taschenbuch 80, Weinheim und Basel, 63.Auflage 2007)

     

    Exzellenz ist in Petersens Schule nicht gefragt, auch nicht geduldet, nur als "Führerpersönlichkeit", die dann aber diese Masse führen wollen muß. Ein- und Unterordnung in die Masse, nur dem Gemeinschaftswohl, weder dem eigenen Leben noch dem individuellen anderen Menschen verbunden, sondern nur als Teil der geführten Gemeinschaft, sogar "eigenes Recht schöpfend". Petersens oberstes Ziel ist die Erziehung in diesem Sinne, die die Erzieher ausdrücklich auch gegen die Eltern und deren Willen und Wünsche durchsetzen sollen. Die Schule als aktive, offene Institution, die Wissen, Fähigkeiten fördern, Erfahrung, Neugierde und Methodik des Lernens und Lösens offener Fragen vermitteln soll, tritt bei ihm zurück - weder hatte er wohl dafür ein Konzept, noch lag ihm dieses überhaupt nahe. Das ist genau die heutige "Bildungsgerechtigkeit" der Linken, in der keiner mehr wissen darf als der Schwächste. Warum soll der schnellere Lerner (was absolut nicht als Wertung zu verstehen ist!) weiter vorankommen als der Langsamste? Weltliche Güter und Einfluß und Macht mag man umverteilen können, Fähigkeiten und Begabungen nicht. Es gibt nichts Ungerechteres als die Gleichbehandlung Ungleicher.

     

    Um aber genau die eigentlich nicht wegzuideologiesierenden Leistungs- und Fähigkeitsunterschiede zu verdecken und damit auch die Entwicklung der Fähigkeit, sich selbst zu bewerten, fällt in der modernen Gemeinschaftsschule die Notengebung weg - wie schon 1927 bei Petersen. Ganz klar ein Stück aus dem Petersenschen Werkzeugkasten zur Entindividualisierung. Ein Jahr zu wiederholen, was offenbar als schweres Trauma, nicht als Hilfe, noch nicht Verstandenes im zweiten Anlauf zu bewältigen, interpretiert wird, - das gibt es in der Gemeinschaftsschule getreu nach Jenaplan-Vorbild ebenso auch nicht. Bei Petersen verbatim nachzulesen. Nur zwei Beispiele einer lange Reihe kongruenter Merkmale, die nur einen Schluß zuläßt: Die Gemeinschaftsschule ist ein Abklatsch der Petersenschen Gleichschaltungsschmiede, und man muß fragen, was die politischen Ideengeber im Sinne führen.

     

    Die Jenaplanschulen wurden den heutigen in Schleswig-Holstein bisher an Haupt- und Realschulen tätigen Lehrern in ihrer immerhin mehrstündigen, für die fundierte Tätigkeit in der Gemeinschaftsschule befähigenden Fortbildung, als Ursprung und Quelle des Konzepts vorgestellt. Kritische Gedanken hatten auch in diesen Fortbildungen keinen Platz. Junge, aufgeweckte Lehrkräfte verglichen diese "Fortbildungen" mit Gehirnwäsche.

     

    Anders denken, Regeln und Rituale in Frage stellen - kein Platz mehr dafür?

     

    Bildungssozialismus: Keiner darf mehr wissen als der Schwächste. Nur dann ist Bildungsgerechtigkeit hergestellt, wenn alle gleich gebildet sind. Petersens Ziel war die homogenisierte Menschenmasse, die nur als Gemeinschaft, wie ein Heringsschwarm, existierte, in der der Einzelne sich nur als Teil der Menge, auf keinen Fall aber als freies, selbstbestimmtes Individuum, sah.

     

    Übrigens hat Petersen auch kein Konzept zur Stützung der allerlangsamsten Lerner, die heute Förderschüler genannt werden, entwickelt - überhaupt war, es sei noch einmal wiederholt, nicht Wissensvermittlung sein Ziel, sondern eben Erziehung - aber in seinem Sinn. Und genau dafür hat er dieses Konzept entwickelt und in dem pädagogischen Werkzeug Jenaplanschule verwirklicht. Die Nationalsozialisten erkannten früh, daß ihnen dieses Schulkonzept dienlich sein würde, und förderten es daher nach Kräften - zu Petersens Zufriedenheit und Freude.

     

    Dieses Werkzeug ist wie eine Gußform - was immer man hineinkippt, es kommt immer das Gleiche heraus. Es ist eine Fabrik für willenlose Glieder einer kommunitaristischen Gesellschaft.

     

    Petersen vergaß aber auch nicht, daß es Führerpersönlichkeiten brauchte, die der Masse / Gemeinschaft eine Richtung vorgeben - diese sollten aus den wenigen Widerstandsfähigen herausgefiltert werden, die er als Ergebnis seiner Erziehungsprinzipien auch in seiner Schule erwartete. Er beschrieb diese "Führer" als die, die auch nach vielfacher Demütigung und Erniedrigung (die Schule schöpft ihr eigenes Recht!) sich wieder aufrafften und behaupteten, aber eben nicht als freiheitswilliges Individuum, sondern in diesem Dualismus von Masse und Führer als eben letzterer.

     

    Und all dieses hat er schon früh, spätestens 1927, formuliert und seitdem bis 1945 in Jena an "seiner" Schule umgesetzt. Als er sich 1946 an der neugegründeten Bremer Universität auf den neuen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft bewarb, wies ihn der damalige Bremer Wissenschaftssenator wegen seiner NS-Vergangenheit zurück.

     

    Ich sehe das historische Mißverständnis, daß dieses Mittel zur Gleichmachung und Gleichschaltung aus der Werkstatt der Nazis heute kritik- und gedankenlos wiederverwendet wird, ohne sich darüber im Klaren zu sein, zu welchem Zweck und mit welchem (damals durchaus erfolgreich erreichten) Ziel dieses seinerzeit entstand. Und daß dieses Werkzeug, diese Gußform auch heute noch den gleichen Zweck erfüllt wie zu Petersens Zeiten.

     

    Das ist, denke ich, nicht nur mehr, sondern etwas ganz anderes als ein NS-Vergleich. Es ist der Hinweis auf die NS-Herkunft dieses Konzepts und die Rolle, die es - neben vielen anderen - in der Vorbereitung und Entstehung einer totalitären Gesellschaft gespielt hat. Das darf sich nicht wiederholen.

     

    Erschütternd ist aber auch, daß die heutige "Erziehungswissenschaft" sich dieser Ursprünge ihrer Kunst gar nicht bewußt ist. Die gesamte Branche hat ihre Vergangenheit (die auch nur bis ca. 1905 zurückreicht) noch nicht ansatzweise bewältigt. Methodenkritik scheint ihr - zumindest bezüglich ihrer Wurzeln - ebenso fern wie eine eigene Ingenuität und Innovationskraft. Die Reformpädagogik war 1935 ausgebrannt, sie hat sich selbst ad absurdum geführt, seitdem sind wirklich neue, profunde Ansätze nicht zu sehen.

     

    Mir scheint, daß dieses Thema insgesamt eine Schlüsselfunktion hat, daß sich alle andere Kritik an sog. Gemeinschaftsschulen und vergleichbaren Konstrukten daraus ableiten oder auch darauf zurückführen läßt. Die Diskussion hierüber muß beginnen.

     

    Auf die Frage nach Quellen sei u.a. auf die zahlreichen Links in den erwähnten Webseiten verwiesen. Diese werden, wenn ich recht informiert bin, in nächster Zeit um viele Reproduktionen von Originaltexten Petersens und anderer ergänzt.

     

    Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Forschungen, die neuerdings an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main mit Hilfe der Böckler-Stiftung durchgeführt wurden und werden. Interessierten sei die Lektüre des Buches "Mythos und Pathos statt Logos und Ethos", ebenfalls im Beltz-Verlag erschienen, nahegelegt, das die Ergebnisse der vorgenannten Untersuchungen dokumentiert.

  • N
    newbe

    "Mir persönlich ist es egal was irgendwann mal irgendein Nazi zu dem Thema Gemeinschaftsschule gesagt hat."

     

    AH JA.

  • P
    Pädagogikstudent

    @ Elternvertreter: ICH DANKE IHNEN!

     

    Selbst in meinem Fach und selbst in diesem gesamten Bildungsstreik (ich weiß nicht, ob auch in seinen wletweiten Armen)sieht nahezu niemand die totalitarisierenden Effekte einer Gesamtschule! Das dort eine Art Vermassung stattfindet kümmert _fast_ keinen. Keine Sorge darum irgendwo, man muss polemisch sagen: hauptsache die behinderten Kinder werden nicht mehr ausgespeert (ernsthaft: ich habe Diskussionen erlebt, in dem alle solche Schulprobleme auf dem Rücken der Behinderten ausgetragen werden, als wären sie selbst an ihrer Ausgrenzung schuld!)

     

    Ich frage mich, ob man wohl eines Tages mal bemerken wird, dass nicht nur Prinzipien die Schule verändern, sondern das Schule die Wahrnehmung solcher (und anderer) Prinzipien allgemein bedingt. Wie viele Menschen HEUTE NOCH vor Angst aus dem Fenster springen würden, erzählte man ihnen, man müsse sich - für eine wirkliche und echte "Reform" - auch über die Abschaffung von Schulen Gedanken machen (und wenns nur hypothetisch ist), weil man sonst niemals alle ihre "wunderbaren" Effekte sehen wird. Der Nazionalsozialismus hätte ohne Schulen anders ausgesehen, das ist gewiss.

    Man muss sich auch der GEschichte der Schule zuwenden, denn Schule, Gefängnis und diszipliniertes Militär entstanden (ca. von 1760 an bis 1850) HAND IN HAND miteinander: die Schule hat beim Militär geschaut, das Militär im Gefängnis, das Gefängnis in der Schule, die Schule im Gefängnis...usw.

     

    Es ist ein trauriger Witz in der Architektur, dass Schule und Gefängnis bautechnisch frappierende Ähnlichkeiten besitzen: und NIEMANDEN stört das ernsthaft, obwohl WIR ALLE in der Schule waren...an baut stattdessen Gesamtgefängnisse, in denen gelernt werden soll.

     

    Ich sage es mit Daniel Greenberg: Niemand käme auf die Idee, Menschen acht Stunden zusammenzusperren nur um sicherzustellen, dass sie sich paaren.

  • DL
    Dr. Ludwig Paul Häußner

    Die Anmerkungen von ELTERNVERTRETER sind sehr interessant.

     

    Ich möchte allerdings noch auf einen anderen Aspekt von Gemeinschaftsschule eingehen: die christliche Gemeinschaftsschule. Nach dem ersten Weltkrieg stand eine Neuordnung der Schullandschaft an. Staat und Kirchen mussten ihre Einfluss- und Interessenssphären neu abstimmen. Man einigte sich auf die so genannte christliche Gemeinschaftsschule, in der Kinder katholischer wie auch evangelischer Konfession gemeinsam unterrichtet werden sollten. Die Aufsicht über die Schulen sollte dabei der Staat haben und nicht mehr die Kirchen.

     

    Man einige sich im Rahmen der Weimarer Verfassung auf die "christliche Gemeinschaftsschule". Vier gemeinsame Volksschuljahre wurden verpflichtend, bevor sich die Kinder aus dem Bürgertum auf das Gymnasium "absondern" durften. Allerdings hatte die "christliche Gemeinschaftsschule" auch ihren Preis: nämlich ein neunjähriges Gymnasium!

     

    Ein demokratisch verfasster Staat orientiert sich natürlich am Gleichheitsgrundsatz: alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. J. W. v. Goethe formulierte dies wie folgt:

     

    "In der Gesellschaft sind alle Menschen gleich. Es kann keine Gesellschaft anders als auf den Begriff der Gleichheit gegründet sein, keineswegs aber auf den Begriff der Freiheit."

     

    Insofern spricht viel für eine Gemeinschaftsschule, mindestens bis zu Klassenstufe sechs oder gar acht.

     

    Die ebenfalls 1919 von einem SPD-Kultusminister ermöglichten Freien Waldorfschulen gelten schulrechtlich als Einheitliche Volks- und Höhere Schulen". Gemeinschaftliches Lernen der Kinder, gleich welcher Konfession oder Nationalität ist in den Freien Waldorfschulen weltweit möglich. Die Freien Waldorfschulen erfüllen diese öffentliche Aufgabe trotz schlechterer finanzieller Unterstützung seitens des Staates seit nunmehr 90 Jahren erfolgreich.

     

    Was wäre wohl bundesweit pratikabel? Eine sechsjährige Primarschule als Gemeinschaftsschule und darauf aufbauend zwei ebenfalls sechsjährige Säulen: ein sechsjähriges Aufbaugymnasium und eine völlig neu konzipierte und innovative - ebenfalls sechsjährige - Kollegschule, die allgemeinbildend, profilbildend (künstlerisch, technisch, ökonomisch, hauswirtschaftlich usw.)und berufsbildend ist (Stichworte: berufliche Vollzeitschulen in Oberstufenzentren von Klassenstufe 9 - 12 bzw. einer zusätzlichen Klassenstufe 13 wie derzeit an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg der Fall).

     

    Deutschland muss sein Drei-Schichten-Schulwesen, das noch postfeudale Strukturen aufweist, überwinden und eine zeitgemäße Schulstruktur realisieren. Der Stadtstaat Hamburg hat deshalb mit seiner Schulstrukturreform Leuchtturmfunktion für die anderen Bundesländer.

     

    Dr. Ludwig Paul Häußner

    Initiator von www.unternimm-die-schule.de

  • P
    Parrhesia

    Sehr geehrter Elternvertreter,

     

    der Hinweis auf Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus ist zwar wichtig, wirksam und gut, aber er ersetzt nicht die (kritische) inhaltliche Auseinandersetzung. Davon war bei Ihnen leider nichts zu lesen.

  • K
    Korkie

    @Elternvertreter

     

    Bitte einen direkten Beleg, wo sich etwas genau wortgetreu wiederfindet...

     

    Die Nazikeule kann jeder schwingen.

     

    Und seien wir mal ehrlich: " Irgendwie kann man ja alles für nationalsozialistisch erklären" ;-)

     

    Mir persönlich ist es egal was irgendwann mal irgendein Nazi zu dem Thema Gemeinschaftsschule gesagt hat. Gemeinschaftsschulen als Konzept, in welchen Kinder nicht schon im Alter von 10 Jahren aussortiert werden, ist eine tolle Sache.

  • E
    Elternvertreter

    Warum wird eigentlich (fast) überall totgeschwiegen, daß die Gemeinschaftsschule im Kern auf die Jenaplan-Schule Peter Petersens zurückgeht, der ein in der Wolle gefärbt nationalsozialistischer Mensch war. Ihm lag nichts an Bildungsvermittlung, sondern an "völkischer Zucht". Mit der Jenaplanschule entwickelte er eine Gleichschaltungsschmiede, an der nach seinen eigenen Worten Liberalismus und Internationalismus, Demokratie und Individualismus keinen Platz hatten. (Peter Petersen: Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jenaplanes im Lichte des Nationalsozialismus. In: Die Schule im nationalsozialistischen Staat. 11. Jg. 1935, Nr. 6, S. 3: "Die Erziehungswissenschaft, auf deren Grundlagen der Jenaplan ruht, ist die erste, welche volkstheoretisch begründet wurde. Wie sie sich eindeutig gegen jeden Liberalismus und Internationalismus, gegen Demokratie und Individualismus wandte, so auch gegen die idealistischen Theorien vom Menschen."

     

    Struktur und Rituale der Jenaplanschule, vor allem die Erziehungsziele Petersens, finden sich in den Konzepten und sogar in neueren Schulgesetzen (z.B. Schleswig-Holstein) fast wortgetreu wieder. Daß dieser Mann auf Einladung des Reichsbildungsministeriums, dem er immer sehr verbunden war, noch Vorträge vor Kriegsgefangenen in Buchenwald halten "durfte", zeigt die Wertschätzung, die ihm seitens der Nationalsozialisten entgegengebracht wurde. War er doch ein williger und überzeugter Helfer, im pädagogischen bereich geradezu ein Wegbereiter dieses Systems. Es ist traurig, daß die Erziehungswissenschaft es weder vollbracht hat, ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufzubereiten noch ihre eigenen Wurzeln in der von nationalsozialistischen Ideen geprägten Reformpädagogik der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts in Frage zu stellen. Wenig bekannt ist auch, daß Benito Mussolini bis 1934 Ehrenpräsident der Opera Montessori war, nachdem sich Maria Montessori den italienischen Faschisten Anfang der Zwanziger geradezu schwärmerisch an den Hals geworfen hatte.

    Wer etwas mehr dazu lesen möchte, möge seine Suchmaschine mit den Begriffen jenaplan.grundschulservice oder gemeinschaftsschule-aktuell füttern oder diesen Begriffen einfach ein .de hintanstellen.