Bildungsforscher Tillmann zur Schulreform: "Das kürzeste aller Zeitfenster"
In Hamburg werden Kinder zu früh auf verschiedene Schularten verteilt, sagt der Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann. Dabei spreche viel dafür, länger gemeinsam zu lernen.
taz: Herr Tillmann, Sie haben bei einem Vortrag erklärt, integrierte Schulsysteme kämen mehrheitlich zu besseren Leistungen als jene, die früh Schüler auslesen. Welche sind das?
Klaus-Jürgen Tillmann: Ich habe unter anderem darauf verwiesen, dass Länder, die eine hohe fachliche Leistung mit einer geringen sozialen Auslese verbinden, allesamt über integrierte Schulsysteme verfügen. Dies trifft zum Beispiel für Finnland, Japan und Kanada zu - und wird durch die PISA-Studien seit 2000 immer wieder bestätigt.
Heißt das, es gibt Länder mit hohen fachlichen Leistungen, die stark sozial auslesen?
war bis 2009 Professor für Schulentwicklung und empirische Bildungsforschung an der Uni Bielefeld und ist Ko-Autor der PISA-2000-Studie.
Ja, eine solche Kombination findet sich zum Beispiel in Belgien. Unter den deutschen Ländern gehören Bayern und Baden-Württemberg am ehesten in diese Kategorie.
Hamburg stimmt in diesen Tagen in einem Volksentscheid über die sechsjährige Primarschule ab. Ihr Kollege Jürgen Baumert hat dies im Spiegel zu einem "völlig unnötigen Streit" erklärt. Der Nutzen der Reform sei nicht bewiesen.
Das sehe ich anders: Jürgen Baumert hat angesichts der PISA-Ergebnisse selbst erklärt, dass durch eine frühe Sortierung im Schulsystem die sozialen Ungleichheiten verstärkt werden. Je früher Schüler auf unterschiedliche Bildungsgänge verteilt werden - so Baumert - "desto kürzer wird das Zeitfenster, das für schulische Interventionen zum Ausgleich herkunftsbedingter Leistungsunterschiede zur Verfügung steht". Dieses Ergebnis ist von anderen Forschern wie Ludger Wössmann mit anderen Daten mehrfach bestätigt worden. Und dass die soziale Ungleichheit am Übergang zur 4. Klasse in Hamburg ganz besonders massiv ist, zeigt die jüngste Kess-Studie in aller Deutlichkeit. Im internationalen Vergleich ist eine nur vierjährige Grundschule nun mal das kürzeste aller Zeitfenster - die geringste Zeit für gemeinsames Lernen. Deshalb ist es bildungspolitisch nahe liegend, über eine Verlängerung der Grundschulzeit nachzudenken.
Also doch ein politisch nötiger Streit?
Dass Politiker jetzt nicht einfach sagen "weiter so", sondern dass sie soziale Ungerechtigkeit abbauen wollen, finde ich begrüßenswert. Deshalb handelt es sich hier nicht um einen "völlig unnötigen", sondern um einen dringend notwendigen Streit. Dabei geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft ihre Fähigkeiten bestmöglich entfalten können. Die Mängel einer Übergangsauslese nach der 4. Klasse sind ganz offensichtlich, deshalb sind hier Veränderungen erforderlich.
Aber es heißt, es sei nicht bewiesen, dass die Primarschule gerechter ist.
Im strengen Sinne beweisen lässt sich das erst, wenn man die Primarschule eingeführt hat und die Effekte dann überprüfen kann. Doch wer den empirischen Beweis vorher haben will, hätte auch nie die Schulpflicht oder den Abgaskatalysator einführen dürfen. Hier gilt für die Politik: Innovationen müssen angesichts der Forschungslage wohlüberlegt und plausibel sein. Und dazu kann man schon jetzt auf die guten Ergebnisse in vielen integrierten Systemen, aber auch auf die hohen fachlichen Leistungen in der sechsjährigen Berliner Grundschule verweisen.
Der Spiegel schreibt sogar, Strukturreformen hätten keinen Nutzen. Darüber seien sich alle einig, die etwas von Schulforschung verstünden.
Diese Aussage ist in ihrer Pauschalität Unsinn - und wird sicher von keinem ernstzunehmenden Schulforscher geteilt. Strukturreformen sind immer wieder notwendig, sie müssen aber mit pädagogischen Maßnahmen gekoppelt werden. Auch die Auflösung der Hauptschule und die Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems ist eine Strukturreform. Soll sie positiv wirken, muss sie mit einem Konzept zur heterogenen Lernförderung verbunden sein. Eine solche Reform wird von vielen Erziehungswissenschaftlern - so von Klaus Hurrelmann, Rainer Lehmann, Jürgen Baumert und Klaus Klemm - ausdrücklich unterstützt.
Haben nicht auch Schulforscher schlicht unterschiedliche politische Meinungen?
Aus den Ergebnissen der empirischen Schulforschung lässt sich nie nur eine einzige Maßnahme ableiten, hier geht es immer auch um Bewertung und Interpretation. Dabei mag die politische Einstellung der ForscherInnen eine Rolle spielen. Dass eine geplante Maßnahme auf der Basis der gleichen Ergebnisse von ForscherInnen unterschiedlich eingeschätzt wird, ist normal. Hier gibt es nicht die eine einzige Lehrmeinung, hier gibt es auch keinen Papst. Es gibt aber genug erziehungswissenschaftliche Befunde, die die Einführung der Primarschule stützen.
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