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BildungInklusive Schule dauert

Ab dem neuen Schuljahr sollen behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Den Grünen dauert die Umsetzung zu lange.

Nur wenige behinderte Kinder werden wie dieser sehbehinderte Junge in Regelschulen unterrichtet. Bild: dpa

Eine zügigere Verbesserung der Lernbedingungen für behinderte Kinder fordert jetzt die Grünen-Bürgerschaftsfraktion. Zwar sieht das neue Schulgesetz ab dem kommenden Schuljahr das Recht auf gemeinsamen Unterricht an Regelschulen für behinderte und nicht-behinderte Kinder vor. "Aber man muss die Verwaltung drängen, das Gesetz auch umzusetzen", sagte gestern Horst Frehe, behindertenpolitischer Sprecher der Grünen.

In Grundschulen war der gemeinsame Unterricht - mittlerweile nicht mehr "integrativ" sondern "inklusiv" genannt - bislang schon möglich. Ab der fünften Klasse allerdings folgte für Kinder mit Beeinträchtigungen die Versetzung auf die Förderschule. Das ändert nun das Schulgesetz. Bremen ist damit bundesweit Vorreiter in Sachen Inklusion, kein anderes Bundesland hat eine vergleichbare Rechtslage. Probleme sehen die Grünen bei der Umsetzung. Schrittweise sollen die Förderzentren aufgelöst und mit den Regelschulen zusammengelegt werden. Zehn Jahre sind dafür vorgesehen. Bis dahin wählen die Eltern, was sie für ihre Kinder möchten: Förderzentrum oder Regelschule. Welche Schule es sein wird, entscheidet aber die Behörde.

Zahlen, wie die Eltern sich für dieses Schuljahr entschieden haben, wollte die Bildungsbehörde gestern nicht nennen. Die Senatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) sagte, beim Übergang in die fünfte Klasse hätten mehr als die Hälfte der Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen in den Bereichen Lernen, Sprache und Verhalten die Regelschule gewählt. Körper-, Geistig- Seh- und Hörbehinderte würden hingegen überwiegend auf die Förderschulen geschickt.

Anja Stahmann, bildungspolitische Sprecherin der Grünen, forderte, Eltern bei der Schulwahl besser zu beraten, damit diese sich häufiger für die Regelschule entschieden. "Da gibt es noch sehr viele Ängste." So ließen sich die Förderschulen auch schneller auflösen. "Zwei Schulformen nebeneinander zu betreiben ist teuer".

Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) weist die Kritik von sich: "Wir haben den Prozess sehr sorgfältig vorbereitet", sagt sie, "gemeinsam mit den Grünen". Allerdings: "Die inklusive Schule ist Neuland für alle", so Jürgens-Pieper. Für Behörde, LehrerInnen und Eltern gleichermaßen. Auch die Regelschulen fühlten sich zum Teil überfordert, die Lehrer und Lehrerinnen seien gar nicht für die Arbeit ausgebildet und müssten ihre pädagogischen Konzepte anpassen.

In einem halben Jahr, so Jürgens-Pieper, solle ein Plan zur Umsetzung der inklusiven Schule vorgestellt werden. Darin werde auch stehen, wie lange die parallele Phase aus Förderzentren und Regelschulen geht.

Informationen zum anstehenden Schuljahr werden Förderzentren und Regelschulen bei einer Beratungskonferenz in der kommenden Woche erhalten. Bis dahin seien auch die Schulanmeldung der nicht-behinderten Klassen eingegangen. "Dann steht eine richtige Verteilaufgabe an", so Jürgens-Pieper: Die Kinder würden den Schulen und Klassen zugeteilt, die personelle Ausstattung ermittelt.

Auch sie wolle eine möglichst zügige Umsetzung. "Aber wir wollen, dass die Akzeptanz bei allen wächst."

"Die inklusive Schule ist Neuland für Eltern, Lehrer und Verwaltung"Renate Jürgens-Pieper

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1 Kommentar

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    Thomas Wasilewski

    Thomas Wasilewski Mönchengladbach

     

    Eine Kultur, in der jeder Mensch einen Platz hat - das ist die Idee, die hinter dem Inklusionsanspruch steht. Und das bedeutet: nicht die Defizite sind das Ausschlaggebende, sondern die Ressourcen, die in jedem Menschen sind. Darum geht es letztlich: Kindern und Jugendlichen Rahmenbedingungen schaffen, ihre Fähigkeiten und Gaben zu entwickeln.

    Jeder und jede ganz unterschiedlich. Alle Menschen brauchen einander, ergänzen einander. Niemand ist überflüssig, jede und jeder ist wichtig. Jeder Mensch hat Würde, er ist wichtig, so wie er ist. Deshalb sollten Kinder und Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen, Bedürfnissen und Beeinträchtigungen miteinander und voneinander lernen, und zwar nicht mit gleichen Zielen, sondern mit unterschiedlichen.

     

    Wer allerdings glaubt, man könne mit der Abschaffung von Sondereinrichtungen Haushaltsmittel sparen, hat nicht verstanden, welch hoher personeller, pädagogischer und architektonischer Aufwand getrieben werden muss, um Gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen. Die Verfassung und die UN Behindertenkonvention dürfen nicht von dem jeweiligen SchulministerIn tagesaktuell gedeutet werden, und nach jeweils eigenem, auch parteipolitischen Verständnis umgesetzt werden.

    Lehrerinnen und Lehrer brauchen für diese Aufgabe die Unterstützung, die nötig ist, um Inklusion gut zu machen. Das bedeutet für die Schule aber auch, dass sie sich neu einlassen muss auf zieldifferenten Unterricht. Sie muss nicht nur zu berücksichtigen, dass Kinder unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten haben, sondern dass auch je und je andere Ziele erreicht werden. Die Lösungen sind vorhanden, werden aber leider beharrlich ignoriert, da sie bestehende Strukturen in Frage stellen. Die Interessen der Sonderpädagogen am bestehenden Schulsystem werden auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Die Pädagogen und Gewerkschaften handeln nach dem Motto: „Weil es etwas in der Vergangenheit nicht gab, darf es dies auch heute nicht geben.

     

    Die große Herausforderung der Inklusion ist es, Schule so zu gestalten, dass jeder einen Platz hat und dass jeder mit seinen Ressourcen zum Zuge kommt. Niemand ist dabei überflüssig. Es ist normal, verschieden zu sein. Beeinträchtigungen sind nicht das Besondere, sondern das Normale. Dass wir auf Hilfe angewiesen sind, ist eine menschliche Konstante. Wir brauchen Ergänzung, Hilfe, Unterstützung. Alle! So ist es auch dann, wenn wir uns einreden, wir seien stark, unabhängig, klug, souverän.

    Gespannt darf man sein, wie gerichtliche Auseinandersetzungen ausgehen, wenn mehr Eltern als bisher sich für eine inklusive Bildung entscheiden und das Schulsystem dadurch unter Reformdruck gerät.

    Am Ende der Inklusion stehe eine neue Schule, die wir noch nicht kennen.