Bibliophil Arno Schmidt übersetzt und adelt Edward George Bulwer-Lytton: Zwischen Soziologie und Seifenoper
Gute Zeiten, schlechte Zeiten im viktorianischen England. Genauer: in Edward Bulwer-Lyttons soaphaft süffigem Roman „Was wird er damit machen? Nachrichten aus dem Leben eines Lords“, dessen Titel eine philosophisch-soziologische Themenstellung bereits andeutet. Um nicht weniger als die Handlungsfähigkeit von Individuen im Laufrad des gesellschaftlichen Gesamtgefüges geht es dann auch. Ein im Resultat zwar etwas konstruiertes, aber unterhaltsames Projekt, das in den Jahren 1857/58 in Fortsetzungen in einem renommierten Politmagazin erschien.
Den 1803 in London geborenen Verfasser kennt man hierzulande in der Regel eher passiv, Mario Bonnards unter federführender Mitwirkung von Sergio Leone entstandener Monumentalfilm „Die letzten Tage von Pompeji“ ist sicherlich bekannter als Bulwer-Lyttons gleichnamige Romanvorlage; das Gleiche gilt für Richard Wagners Oper „Rienzi“, die ebenfalls auf einem Roman des seinerzeit auch politisch aktiven Barons basiert, der sowohl für die Liberal Party als auch später für die konservativen Tories im britischen Unterhaus saß.
„Was wird er damit machen?“ ist dagegen so gut wie vergessen, obwohl der jetzt bei Suhrkamp in sechs halbleinenen Bänden und einer hübschen Kassette erscheinende Roman einst beim zeitgenössischen Publikum durchaus beliebt war. Ein Begriff ist er heute allenfalls Literaturnerds und Arno-Schmidt-Fans. Schmidt nämlich hatte ihn in den 70er Jahren ausgegraben und übersetzt – laut Verlagsankündigung zur Erholung von seinem Opus magnum. Stimmt schon, Bulwer-Lyttons Porträt einer Epoche ist wesentlich leichter konsumierbar als „Zettel’s Traum“, auch wenn die Übersetzung sogenannte „Bargfeldismen“, also typisches Schmidt-Deutsch, enthält. Doch auch Nicht-Schmidt-Fans dürften Spaß an der Lektüre finden.
Die mitunter dokumentarisch wirkende Handlung wiederum ist so komplex, dass sie sich kaum zusammenfassen lässt. Im Zentrum des unüberschaubaren Figurenpanoramas (zum Glück gibt es in jedem Band ein Personenverzeichnis – das braucht man auch) stehen der reiche Lord Darrell und die von ihm geliebte Lady Montfort, die wie die mittellose Schauspielerin Sophie – ein klares Pendant zur Mignon in Goethes „Wilhelm Meister“ – und ihr leidenschaftlicher Verehrer Lionel Haughton den Intrigen des Superbösewichts Jasper Losely zum Opfer fallen.
Ein gelegentlicher Kitschfaktor ist entsprechend programmiert. Das Setting reicht vom adligen Landsitz bis in die Londoner Unterwelt, alle sozialen Schichten werden erfasst. Mit feinen Unterschieden à la Bourdieu aber hat die Darstellungsweise nichts zu tun, Bulwer-Lytton klotzt, übertreibt und spitzt satirisch zu. Das zeitgenössische England, das damals gerade zum Mega-Empire aufstieg, bleibt hier keine Fallstudie, sondern wird zum Paradigma erhoben. Ein viktorianischer Schriftsteller – sei es nun Charles Dickens, William Thackeray oder eben Bulwer-Lytton – begnügt sich nun mal nicht mit Ausschnitten oder einzelnen Themen. Er geht aufs Ganze. Tobias Schwartz
Edward George Bulwer-Lytton: „Was wird er damit machen?“ Suhrkamp, Berlin 2015, 1.400 Seiten, 48 Euro
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