■ Bewegungsmelder: Fahrradfrust in Form von Frost
Die Tage werden kürzer, da trennt sich die Spreu vom Weizen. Wenn bei lebensbejahenden Temperaturen die Natur grünt und blüht, verstopfen in der Großstadt die Sonntags- und Sonnentagsfahrer die Radwege und Fahrradparkplätze. Doch wenn der eisige Taigawind besonders durch die östlichen, nach Sibirien ausgerichteten Straßenschluchten faucht, ist der echte Bikefreak gefordert. Jeden Morgen die gleiche existentielle Frage nach dem Blick auf das eingefrorene Thermometer: „Bin ich hart genug für den Weg zur Arbeit?“
Oder bin ich doch ein degenerierter Weichling, der sich in der dunklen Jahreszeit in Autos, Busse und Bahnen zwängt. Auch das ist schließlich nicht unbedingt gesundheitsfördernd: Immerhin besteht die akute Gefahr, auf der Bank am S-Bahnhof festzufrieren, wenn der Zug nicht kommt, oder im U-Bahn-Gedränge mit Grippeviren vollgehustet zu werden. Wer bei Kälte aufs Rad steigt, hat vor allem ein Problem, das der mündige Verbraucher aus dem Kühlregal kennt: Gewebe leidet, wenn es zu häufig eingefroren und wieder aufgetaut wird. Abhilfe schaffen die Skimütze Marke Banküberfall, die Handschuhe Marke Bärentatze, der Schal Marke Palästinensische Befreiungsfront und die langen Unterhosen Marke Liebestöter. Dann strampeln die Stiefel Marke Antarktisdurchquerung gegen den heulenden Blizzard an und treiben den müden Dynamo zu einem funzligen Licht. Je weiter der tägliche Weg auf dem Drahtesel, desto besser. Denn erst nach etwa drei Kilometern erinnert sich das panikartig aus den Extremitäten geflohene Blut wieder langsam daran, daß es auch für die Versorgung von Händen und Nasen bezahlt wird. Der körpereigene Feuchtigkeitsausstoß führt dazu, daß unser Radfahrer gut eingeschweißt an seinem Bestimmungsort ankommt. Wankt er dann mit steifen Beinen ins Büro, schlägt ihm der überheizte Muff entgegen, in dem die Kollegen Frostbeulen sich wohl fühlen.
Der natürliche Feind des Radfahrers ist indes nicht die bissige Kälte, sondern das heimtückische Väterchen Frost. Außer den Mitbürgern, die am Wochenende in knisternden Polyester-Freizeitanzügen und mit dem Hund an der Leine die Klappräder besteigen, wissen Radfahrer, daß man sich beim Kurvenfahren in die Seite legt. Auf die Seite legt sich der gemeine Radfahrer dieser Tage schnell. Besonders auf Brücken lauert gern der Fahrradfrust in Form von Frost, und schon – zack! – rutscht man mit geborstenem Brillengestell und verrenktem Kiefer vor den heranschlitternden Möbelwagen. Da hilft nur: Football-Polsterung anlegen, Spikes auf die Reifen ziehen oder warten, bis der Schnee hoch genug liegt, um den restlichen Verkehr zum Erliegen zu bringen. Dann, auf tiefverschneiten Straßen oder spiegelglatten Seen, macht sich endlich die 21-Gang-Schaltung bezahlt. Bernhard Pötter
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