piwik no script img

■ BewegungsmelderIm Pulk durch die Unterführung

Der S-Bahnhof Wollankstraße hat nur einen Ausgang, nach Westen. Eigentlich gehört die Bahnstrecke zum Bezirk Pankow, also zum Osten. Trotzdem diente sie dreißig Jahre lang dem Westberliner Verkehr, führte von der Villenkolonie Frohnau im Norden immer an der Grenze entlang bis zum stillgelegten S-Bahn-Ring, durchquerte ein kurzes Stück den schäbigen Westbezirk Wedding, tauchte dann ohne Halt unter der Ostberliner Innenstadt hindurch, um sich schließlich in den Reihenhausquartieren des Westberliner Südens zu verlieren.

Am 13. November 1989 fiel an der Wollankstraße die Mauer, doch der Bahndamm trennt die Bezirke Pankow (Ost) und Wedding (West) noch heute. Nur ein klitzekleines Schlupfloch öffnete sich, gerade so groß, daß ein Doppeldeckerbus hindurchpaßt und die Pankower Wollankstraße wieder mit ihrem Weddinger Pendant verschmolz. Statt mit einer quietschenden Straßenbahn eine halbe Stunde lang den Westbezirk Wedding zu umfahren, kommen die Pankower seither in flotten zwölf Minuten zum Bahnhof Friedrichstraße im Herzen der Stadt. Weil es nur eben jenen einen Eingang gibt, müssen sie jedes Mal ein paar Schritte über Weddinger Territorium zurücklegen.

Für die Weddinger hingegen hat sich nichts geändert, außer daß sich vor dem Nadelöhr der S-Bahn-Unterführung jeden Nachmittag die Ostberliner stauen, die von ihren Arbeitsplätzen im Westen zurückkehren. Auf der westlichen Seite, im berüchtigten Problemkiez um die Soldiner Straße, hat sowieso kaum jemand Arbeit. Vielleicht liegt es auch daran, daß die Adrenalinkurve der beiden Bezirke so verschieden verläuft. Die Pankower fahren, in ihrer Mehrheit jedenfalls, morgens zur Arbeit und abends zurück. Dann schieben sie sich im Pulk durch die Unterführung. Zu den übrigen Tageszeiten ist die Wollankstraße (Ost) wie ausgestorben.

Anders die Wollankstraße (West). Dort verteilt sich das Fußgängeraufkommen ziemlich gleichmäßig über den ganzen Tag, über die ganze Woche. Vor allem am Samstag bevölkern sich die Gehsteige, die Kaiser's-Filiale und der türkische Gemüseladen schließen erst um vier, der Bäcker um eins. Kurz vor Toresschluß ist das Gedränge am größten.

Zu solch später Stunde ist die Wollankstraße (Ost) bereits ausgestorben. „Jetzt schon ab sechs Uhr geöffnet“, wirbt dort die Bäckerei John, und um sieben stehen dort so viele Pankower nach „Original DDR-Schrippen“ an, daß die Schlange bis auf die Straße reicht. Um neun gibt es keine Brötchen mehr, um zehn ist auch der Kuchen ausverkauft, und um elf macht der Laden dicht. Und da behaupten Marktforscher noch, der Lebensrhythmus von Ost- und Westdeutschen unterscheide sich nur um eine Stunde.

Wenn sie wollten, könnten die Pankower getrost ausschlafen und ihr Brot bei Schnell holen, der Bäckereifiliale an der Wollankstraße (West). Aber sie wollen nicht. Weniger, weil das Kaviarbrot dort Baguette heißt. Eher schon, weil die West-Schrippen, außen spröde und innen luftig-leer, für den durchschnittlichen Ostler so ziemlich alles verkörpern, was er am Kapitalismus verachtet. Und vielleicht auch deshalb, weil ihnen das viele Leben auf den Weddinger Straßen, das türkische zumal, ein bißchen unheimlich ist.

Daß der Ostbäcker besser und preiswerter ist, daß die alten Holzregale mehr Flair verbreiten als die Plastiktheke im Wedding, daß es die wunderbaren Streuselkekse sowieso nur auf der Pankower Seite gibt – all das bleibt dem zugezogenen Westdeutschen nicht verborgen, den einheimischen Weddingern hingegen schon. Noch nie wurde das gelbe Papier der Bäckerei John in einer Weddinger Wohnung vom Kuchentablett gewickelt.

Das stimmt vielleicht nicht ganz. Einmal, kurz nach der Maueröffnung, hat sich fast jeder aus dem westlichen Arbeiterbezirk durch die Unterführung hindurchgetraut – und deshalb einen guten Grund, weshalb er seit fast neun Jahren gern darauf verzichtet. Ein Brötchen habe er gekauft, erzählt ein Taxifahrer. Klitzeklein sei es gewesen, noch ganz feucht und überhaupt nicht knusprig. Ralph Bollmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen