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Archiv-Artikel

Bettina GausMacht Denn sie wissen nicht, was sie entscheiden

Ob es nun um Flugrouten in Berlin oder einen Bahnhof in Stuttgart geht: Die Politiker erwecken den Eindruck, als wären sie an ihrer eigenen Politik gar nicht beteiligt gewesen. Womöglich stimmt das sogar

Politiker sind an ihren eigenen Entscheidungen offenbar nicht beteiligt. Warum sonst sollte die brandenburgische CDU jetzt der Landesregierung jahrelange Versäumnisse im Zusammenhang mit dem Großflughafen Berlin-Schönefeld vorwerfen – obwohl sie bis 2009 an dieser Regierung beteiligt war? Die SPD, die seit 20 Jahren an der Macht ist, beklagt mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung im Planungsverfahren. Schön, dass darüber einmal geredet wird.

Die Genossen in Berlin sind auch nicht fröhlich. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit nennt die Routenplanungen der Flugsicherung einen Skandal. „Ich kann den Protest der Bürger verstehen“, sagte er. Die Menschen sollten deutlich machen, dass sie sich das nicht gefallen lassen. Vielleicht möchte er bei der nächsten Großdemo gerne als Hauptredner auftreten.

Die Deutsche Flugsicherung entscheidet über die Flugrouten in Abstimmung mit der Lärmschutzkommission, in der Vertreter der betroffenen Kommunen sitzen. Was sie im September veröffentlichte, sorgte bei denen für Entsetzen, die dachten, sie blieben von Lärm verschont. Die Planungen sahen nämlich ursprünglich anders aus.

Wenn man die jüngsten Äußerungen ernst nimmt, dann haben Politiker offenbar von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Möglichkeit mehr, das Verfahren zu beeinflussen. Über Jahre hinweg scheint sie das nicht gestört zu haben, jedenfalls erinnert man sich nicht an Hilferufe aus Potsdam oder Berlin an die Adresse der Bevölkerung. So will der blöde Verdacht nicht weichen, dass das neue Unbehagen eng an die Probleme gekoppelt ist, die süddeutsche Kollegen derzeit mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof haben.

Zumal Politiker ja in anderen Fällen die eigene Entmachtung klaglos hinnehmen. Unvergesslich bleibt, dass der Bundestag 1994 dem Vertrag über den deutschen Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO zugestimmt hat, obwohl viele Abgeordnete den Text nicht einmal theoretisch hatten lesen können, bevor sie ihm zustimmten. Es lag zum Zeitpunkt der Abstimmung lediglich eine Teilübersetzung vor.

Es ist offenbar Alltag, dass Parlamentarier nicht wissen, was sie tun – oder dass sie, sobald sie etwas wissen, nichts mehr tun können. Halina Wawzyniak, Abgeordnete der Linkspartei, erzählt in ihrem Blog, wie das konkret läuft im Bundestag: Da wird ein Berichterstattergespräch anberaumt, bei dem Fachleute einzelnen Abgeordneten ihren Standpunkt zu einem Gesetzesvorhaben erläutern. Die berichten darüber später ihren jeweiligen Fraktionen. Theoretisch.

Praktisch soll bereits am folgenden Tag die abschließende Beratung des Gesetzentwurfs im Rechtsausschuss stattfinden. Halina Wawzyniak: „Mal abgesehen davon, dass nach den Regeln des Rechtsausschusses es unmöglich wäre, aus der Anhörung resultierende Änderungsanträge einzubringen, hätten die Fraktionen nicht einmal 24 Stunden Zeit für eine Auswertung gehabt. So etwas nenne ich Alibi-Veranstaltung.“ Ja, so nenne ich das auch.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: A. Losier