Besuch im jüdischen Pflegeheim: Ihre letzten Tage

Sie haben ihre Familien in den Lagern der Nazis verloren, sind aber in Deutschland geblieben. Ein Besuch bei den letzten Holocaust-Überlebenden.

Eine Menorah (siebenarmiger Leuchter) im jüdischen Museum in New York. Bild: ap

Im Schlaf, in seinen Träumen, sagt Willi Hoffmann, kämpfe er immerzu. Eingezäunt im Getto von Riga prügeln die Nazis mit Stöcken auf seinen nackten Rücken ein, sie versuchen ihn zu brechen, doch Hoffmann wehrt sich, boxt mit seinen Armen, tritt mit den Beinen, hofft, dass es aufhört, bevor er sterben muss wie all die anderen Juden.

Dann wacht Willi Hoffmann, 87 Jahre alt, Pflegestufe 1, auf aus seinem Traum. Es ist ein kalter, grauer Wintertag in Berlin. Regentropfen prasseln auf das Fenster hinter Hoffmanns Bett. Im Liegen würde er einen Besucher niemals empfangen. Das Leben hat ihm das Herz geschwächt, die Hüfte zerstört und den Rücken gekrümmt, und doch sitzt Hoffmann gerade auf seinem Bett, so aufrecht und groß, dass das Bett unter ihm zu klein wirkt. "Der liebe Gott hilft mir", sagt er. Seine Stimme ist laut und kräftig. "Setzen Sie sich", fordert er seinen Besucher auf, "und stellen Sie Fragen, bitte."

In seiner Kindheit flüchtete seine Mutter mit ihm von Berlin nach Riga, als absehbar wurde, dass es für Juden wie sie kein Leben mehr in der Heimat geben würde. Aber die Nazis jagten Juden überall in Europa. 1941 sperrten sie Hoffmann ins Getto von Riga, zwei Jahre später ins Konzentrationslager Kaiserwald. "Meine Mutter haben sie weggeführt und dann umgebracht", sagt Hoffmann, noch etwas lauter als sonst. Nach dem Krieg lebte er in der Fremde, als rastloser Fernfahrer in Lettland. Vor zwei Jahren zog er nach Berlin ins Pflegeheim. Er kehrt zurück in das Land, das ihn vernichten wollte, um zu sterben. "Ich bin eben Deutscher", sagt Hoffmann, "das hier ist mein Zuhause."

Hoffmann greift nach seinem Gehstock und stemmt sich unter leisem Ächzen aus dem Bett. Hilfe lehnt er ab. Wer ihm beim Gehen zusieht, erahnt den rauen Kraftfahrer, der er mal war. Er öffnet seine Zimmertür, schleppt sich den Flur entlang zum Aufzug, fährt vom dritten Stock ins Erdgeschoss und setzt sich an die weißgedeckte Tafel im Gemeinschaftsraum. Es ist Freitag, und Hoffmann wartet auf die Schabbat-Zeremonie.

"In einer Viertelstunde geht es los", sagt er. Seine Tischnachbarn schweigen. Hoffmann gehört zu den Wenigen im Heim, die noch sprechen können. Ein Besuch im Pflegeheim Hermann Strauß ist auch ein Besuch bei den letzten noch lebenden Opfern der Schoah. In einem gelben dreistöckigen Wohnhaus, umgeben von Wiesen, Parkbänken und Buchen lebt eine Generation europäischer Juden, die Konzentrationslager im Kopf haben, wenn sie an früher denken. Eine Generation, die sich dem Tod nähert.

Sie waren mal die Stärksten unter ihresgleichen, sie sind vor ihren Peinigern geflohen, sie haben überlebt, und nun können sie nicht mehr selbst essen. Pfleger füttern sie. Wer im Hermann-Strauß-Heim arbeitet, hat seinen Arbeitsplatz an einem Ort, an dem Juden, Deutschland und der Tod sich treffen.

Wie aber geht man mit Menschen um, die das Fürchterlichste erlebt haben? Irina Tsilevitsch sitzt in ihrem Büro, schräg gegenüber dem Gemeinschaftsraum. Tsilevitsch, 37 Jahre alt, wache blaue Augen, das dunkle Haar streng zum Zopf gebunden, leitet die Pflege im Heim. Ununterbrochen klingelt das Diensttelefon in der Seitentasche ihres weißen Kittels. Sie blättert in einem schwarzen Ordner, in dem sie zwischen Pflegerichtlinien und Mitarbeiterverträgen nach Antworten sucht auf die Frage, wie man Holocaust-Opfer pflegt, die zur Unmündigkeit verdammt sind. "Hier, sehen Sie, da werden die jüdischen Feiertage erklärt, Jom Kippur, Pessach." Sie bricht ab, klappt den Ordner zu. "Wissen Sie, für das, worum es hier geht, gibt es keine aufgeschriebenen Vorschriften." Wo soll auch geschrieben stehen, dass eine Pflegerin im zweiten Stock im Zimmer eines bestimmten Bewohners die Tür nicht schließen darf, weil der Bewohner sonst glaubt, Gas dringe unter der Schwelle ein? Oder eine Liste mit Komplimenten, die man nicht machen darf? Tsilevitsch sagte einmal einer Bewohnerin, ihr Haar sehe schön aus, und diese antwortete ihr, sie hätte es sehen sollen, bevor man es ihr abgebrannt hätte im KZ. Tsilevitsch schüttelt den Kopf. "Für die Arbeit hier braucht man eine gute Seele. Darum geht es."

Eine gute Seele des Heims ist Sahin Kadem. Die 63-Jährige ist klein, nicht größer als die alten Damen, um die sie sich seit 16 Jahren kümmert. Sie ist beliebt, jeder grüßt Kadem. Ihre Gesichtszüge sind weich, sie strahlt die gutmütige Geduld einer Kindergärtnerin aus. Eigentlich ist sie Küchenkraft, doch auf Kochtöpfe hat sich ihre Arbeit nie beschränkt - das ginge auch gar nicht. Sie steht in der Küche und füllt Wein in Schnabeltassen. Für die Schabbat-Zeremonie. "Ich weiß, dass viele der Bewohner einen schlechten Weg hinter sich haben. Doch ich glaube fest daran, dass die religiösen Rituale in den Bewohnern eine schöne Zeit wecken, die sie erlebt haben. Religion ist für sie ein Symbol weiterzumachen". Worte in einem jüdischen Pflegeheim, gesprochen von einer Frau, die an den islamischen Bektaschi-Orden glaubt. Auf eine Weise ist dieser Bruch konsequent in einem Haus, in dem es kaum einen ungebrochenen Lebenslauf gibt. "Wir sind alle Kinder Gottes", sagt Kadem. Sie lächelt. Dann trägt sie ein Tablett mit den Schnabeltassen aus der Küche.

Normalerweise beginnt Schabbat mit dem Sonnenuntergang, doch die meisten Heimbewohner sind zu schwach, um so lange zu warten, also geht die Zeremonie schon am Nachmittag los. Hoffmann hat sich eine Kippa aufgesetzt. Am Kopf des langen weißgedeckten Tisches leuchten Kerzen, ein Kantor steht bereit, eine Pflegerin legt eine CD ein, die "For you, Jerusalem" heißt. Vor jedem Bewohner liegt auf einem Teller ein Stück Zopfbrot. Der Kantor beginnt zu singen. Hoffmann schweigt. "L'Chaim", zum Wohl, ruft eine Pflegerin in die Runde, und die, die noch können, nehmen einen Schluck Wein.

Eli Goldmann (Name geändert) kann nicht mehr. Sie sitzt in einem Rollstuhl, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück und sagt mit leiser Stimme, sie wolle nach Hause: "Wer hat mich hier reingefahren? Hören Sie, ich muss hier weg. Wo bin ich hier?" Ihre Demenz ist ein Problem, das jedes Pflegeheim kennt, ein Problem, das das Alter bringt. Menschen verlieren fast ihr gesamtes Kurzzeitgedächtnis, und das, was bleibt, ist die Vergangenheit. Was aber, wenn die Vergangenheit aus Bildern besteht, in denen die Eltern zum Zug abgeführt werden? Eine Pflegerin reicht der klagenden Eli Goldmann ein Stück Zopfbrot und ihre Fragen verstummen. Die alte Dame sieht erschrocken aus. Um sie herum wiegen sich Einzelne zum sehnsuchtsvoll-getragenen Gesang des Kantors.

Nach einer halben Stunde ist die Schabbat-Zeremonie vorbei. Einer nach dem anderen wird aus dem Raum geschoben. Was bleibt, ist das Gefühl, dass Religion auch in Dosen verabreicht werden kann, in Minuten pro Tag.

Zurück in seinem Zimmer öffnet Hoffmann die Schublade seines Nachtkästchens, in dem seine Vergangenheit liegt. Fotos aus seiner Zeit als Lkw-Fahrer, Fotos aus der Nachkriegszeit, vergilbte lettische Pässe. Seine Geburtsurkunde aus dem Jahr 1922 hat er in eine Klarsichthülle gesteckt. Er liest sie gern vor: "Wilhelm Hoffmann, geboren in Berlin-Lichtenfeld". Lange hat er für das Dokument kämpfen müssen, das Standesamt hatte ihm gesagt, es sei im Krieg verbrannt. Doch vor wenigen Tagen brachte ihm eine Pflegerin einen Briefumschlag vom Berliner Standesamt ins Zimmer. "Seitdem bin ich ein richtiger Deutscher", sagt Hoffmann. Ein Opfer, das zur Nation der Täter gehören will.

Hoffmanns Frau, die vor etwa zehn Jahren an Krebs starb, war eine nichtjüdische Lettin. Sein Sohn wurde zum Christen. "Ich bin als Jude geboren, und als Jude soll ich sterben", sagt Hoffmann. Seine Kippa hat er noch im Schabbat-Zimmer abgenommen. Im geschundenen Körper eines Greisen lebt eine Biografie weiter, die so gebrochen ist wie ihre Zeit. Hoffmann hat einen kleinen Weihnachtsbaum aus Plastik neben seinen Kleiderschrank gestellt. Manchmal guckt er ihn sich an und summt dabei "Oh Tannenbaum". Den Text kennt er nicht.

Vor Hoffmanns Fenster schiebt ein Polizist Wache. Rund um die Uhr. An Feiertagen steht noch mehr Sicherheitspersonal vor der Tür als sonst. Das Deutschland, in dem Hoffmann lebt, soll geschützt werden, weil es noch Deutsche geben könnte, die einen Juden wie Hoffmann nicht wollen.

Zwei Pflegerinnen, die auf Deutsch miteinander sprechen, huschen an seiner Zimmertür vorbei. Hoffmann lächelt. Er ist zu Hause, für die letzten Jahre seines Lebens. Er legt den Kopf auf sein Kissen, dann schließt er die Augen. Es dauert nicht lange, das Gefühl von Heimat, und er fällt in seinen quälenden Schlaf.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.