Besuch im Christenviertel von Bagdad: Nach dem Exodus
Die ethnischen und religiösen Minderheiten im Irak sind der Gewalt von Extremisten beinahe schutzlos ausgeliefert. Im Stadtteil Dora im Süden Bagdads harrt ein alter, einsamer Priester aus
BAGDAD taz Beinahe im Sekundentakt donnerten die Granaten an dem Kirchengebäude vorbei, die Mauern erzitterten unter den Druckwellen von Bombenanschlägen, Gewehrsalven schlugen in den Kirchenfenstern ein. Draußen auf den Straßen wurden Christen entführt und kaltblütig ermordet. Viele sind geflohen, doch Orha Dokha harrte in seiner Kirche im Stadtteil Dora in Bagdad aus. Vom Alter gebeugt, das runzelige Gesicht von einem weißen Rauschebart umrahmt, öffnet er das Tor. Nie habe er daran gedacht, seine Kirche, die er seit zwanzig Jahren betreut, zu verlassen und an einem sichereren Ort Zuflucht zu suchen.
Auf die schweren roten Samtvorhänge vor dem Altarraum hat sich eine dicke Staubschicht gelegt. Vasen mit Plastikblumen schmücken den schlichten, weiß getünchten Kirchenraum. Von ein paar zerschossenen Fenstern abgesehen, hat das Gotteshaus der assyrischen Christen die Kriegswirren der letzten Jahre jedoch unbeschadet überstanden. In einem kleinen Garten sprießen Gemüse und Kräuter. Seit drei Jahren hat der 83 Jahre alte Priester das Kirchengelände nicht mehr verlassen, den letzten Gottesdienst hielt er im Januar 2006 ab. Gelebt hat er in dieser Zeit von den mildtätigen Gaben von Nachbarn und den Früchten aus dem Garten. Seine nicht minder betagte Frau - assyrische Priester dürfen heiraten - sei ab und zu auf den Markt gegangen, um das Nötigste einzukaufen, sagt er mit brüchiger Stimme. "Ich wollte die Kirche schützen." Deshalb sei er geblieben, als im Jahr 2004 die ersten Sprengsätze vor den Kirchen in Dora in die Luft gingen, und auch dann, als zuerst sunnitische, später schiitische Extremisten regelrecht Hatz auf die Christen von Dora machten. "Gott hat mich beschützt."
Der "Vatikan des Irak" wurde Dora wegen seiner zahlreichen Kirchen, Klöster und dem berühmten Priesterseminar Babel einst genannt. Mit mehreren zehntausend Gläubigen war Dora eines der größten Zentren der Christen im Irak. Fast alle Denominationen hatten ihren Platz - Armenier, syrische Orthodoxe und Katholiken, Chaldäer und assyrische Christen. Darüber hinaus lebte in dem mehrheitlich sunnitischen Stadtteil in Südbagdad die Minderheit der Mandäer (Sabai), die ihre Wurzeln auf Johannes den Täufer zurückführt und die für ihre großen alljährlichen Taufrituale Ende März im Tigris bekannt ist.
Gegenüber von Dokhas Kirche hat im Babel-Seminar eine Kompanie der amerikanischen Armee ihr Lager eingerichtet. Die Soldaten bilden gewissermassen die schwer bewaffnete Schweizer Garde von Dora. Den Exodus der Christen konnten sie aber nicht verhindern. Obwohl sich die Sicherheitslage gebessert hat, sind bisher nur eine Handvoll Christen wieder zurückgekehrt.
Seit dem Sturz des Saddam-Regimes hat laut Schätzungen die Hälfte der damals noch verbliebenen eine Million Christen das Land verlassen. Von Basra über Bagdad und Kirkuk bis Mossul sind die Christen zu Tausenden entweder ins Ausland oder nach Kurdistan geflohen. Die ohnehin schwache Hoffnung, dass sich ihre Lage in naher Zukunft verbessern könnte, zerbrach für viele, als im März der katholische Erzbischof von Mossul, Paulos Faraj Rahho, entführt und drei seiner Begleiter erschossen wurden. Wenige Tage starb Rahho an den Strapazen der Geiselhaft.
In Kurdistan, wohin einige tausend Gläubige geflohen sind, sind die Christen weitgehend sicher. Sie können ohne Angst vor Verfolgung ihre Religion ausüben, und in manchen Gegenden erhalten sie von der Regionalregierung großzügige Hilfe. Doch eine Zukunft sehen viele für sich hier nicht. Klagen über fehlende kulturelle und politische Rechte sind weit verbreitet. In der Ninive-Ebene nordöstlich von Mossul sind die Christen mitten in den Konflikt um die Zukunft der Region geraten. Die Kurden wollen das Gebiet in ihren Teilstaat integrieren, was die Mehrheit der sunnitischen Araber der Provinz strikt ablehnt.
In diesem Konflikt drohen nicht nur die Christen, sondern auch die Schabak und die Jessiden, die einer der ältesten Religionsgemeinschaften im Irak angehören, zerrieben zu werden. Umso kleiner eine Minderheit im Irak, umso schutzloser ist sie der Gewalt und dem Druck durch die Mehrheit ausgeliefert, und entsprechend hoch ist ihr Anteil an den Flüchtlingen.
Orha Dokha macht heute manchmal das große Eisentor zum Kirchengelände auf. Aber es komme nur selten jemand vorbei, sagt er. Kürzlich hat er es sogar gewagt, wieder einmal einen Gottesdienst abzuhalten. Doch die Kirchenbänke blieben leer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett