: Besser als das Original
Viel zu bewundern: „Japan und Europa 1543–1929“, eine komplexe kulturhistorische Ausstellung in Berlin ■ Von Mirjam Schaub
Im Jahr 1543 fielen portugiesische Kaufleute auf dem Weg von Siam nach China in die Hände von Piraten. Wie die Legende es will, konnten sich drei Männer retten. Als das Unwetter vorüber war und die Piraten am Horizont verschwunden, hatten sie das nahe Ufer erreicht und ein neues Land entdeckt. Sie waren an der Nordküste Zipangus gestrandet, im „Land der aufgehenden Sonne“. Marco Polo kannte es vom Hörensagen. Aber niemand hatte den sagenumwobenen Ort, an dem es Gold und Silber geben sollte, je gesehen.
Den Schiffbrüchigen nicht unähnlich, steht der europäische Besucher reichlich naßforsch vor den mehr als 700 Exponaten: Prächtige Weltkarten, goldbemalte Wandschirme, Porzellan- und Lackarbeiten, Tuschezeichnungen und Ölbilder, Teleskope und Gelehrtenbücher wurden in mehr als dreieinhalb Jahren unter der Leitung von Gereon Sievernich, Lothar Ledderose und Doris Croissant zu einer einzigen Ausstellung zusammengetragen: „Japan und Europa: 1543–1929“. Acht Millionen Mark hat die sie gekostet. Eine gigantomane Gesamtschau ist es trotzdem nicht geworden, sondern eine wohlgegliederte, gute proportionierte Ausstellung, in deren Mittelpunkt das Europa-Bild Japans steht. Die Geschichte der Annäherung und Abstoßung wird am Leitfaden der drei Epochen „Die Entdeckung durch die Europäer“ (1543–1639), „Abschließung“ (1639–1853), „Öffnung“ (1853–1929) erzählt. Im Interesse der Sache ist man eklektisch vorgegangen und zeigt die natürliche und sehr harmonische Verzahnung von Kultur, Wissenschaft und Politik. Da viele der japanischen Staatsschätze, vor allem die Papierzeichnungen, überaus lichtempfindlich sind, müssen die Vitrinen nach spätestens sechs Wochen neu bestückt werden.
Den Rundgang beginnt man am besten im Lichthof des Gropius- Baus. Dort stehen die „nanban- byobu“, japanische Stellschirme, die nach dem Thema ihrer Darstellung benannt sind. Sie zeigen in verschiedenen Variationen die Ankunft der Europäer. Japanische Malschulen, unter ihnen die traditionsreiche Kanô-Schule, fertigten die beidseitig bespannten Holzschirme auf Geheiß der Invasoren an. Besondere Beliebtheit erfreute sich – neben der Darstellung von Taschentüchern, Hüten und Spitzbärten – die Gruppe: Sklave mit Schirm, Kapitän, Junge mit Pudel. Mit Blick nach oben, deutlichen Spuren von Verklärung im Gesicht, geht es im Spreizschritt an Land, während in den Häusern Japanerinnen beim Würfelspiel sitzen. Die perspektivisch genaue Darstellung ist eher Ausnahme, die Seitenansicht wird immer durch die Draufsicht auf tiefhängende, goldene Wolken ironisiert, die einem überirdischen Fluß gleich das irdische Geschehen lautlos begleiten. Im Hintergrund spielen sich dezent, aber unmißverständlich, Tauf- oder Beichtzeremonien ab.
Folgerichtig finden sich im ersten Saal des Seitenschiffs allerlei Kuriosa aus dem Devotionalienhandel. Klassische japanische Teeschalen werden mit griechischen Kreuzen versehen. Steigbügel mit den Leidenswerkzeugen Jesu dekoriert, von kürbisgroßen Handwärmern glänzen europäische Fürstengesichter. Daß der Spuk bald sein Ende haben müsse, kündigen noch im selben Raum zwei sehr verschiedene Rüstungen an. Statt der ersehnten Handelsabkommen mit Japan bringt der Kapitän seinem König James I. einen furchterregenden Domaru-Körperpanzer aus der Schmiede des großen Shogun „zum Geschenk“. Sie wiegt 12,7 Kilogramm und besteht aus beweglichen Lederplatten, mit Purpur-Seide oder Goldfäden geschmückt. Nase und Mund sind in einer schwarzen Lack-Maske versenkt, die Augen unter dem in die Stirn gezogenen Helm frei. Dagegen ist die Ritterrüstung, die die Holländer dem Tokugawa- Shogun im Gegenzug brachten, ein untersetzter, metallischer Körpersarg.
Während die Rüstung in London ihre Wirkung tut, besinnt sich der beschenkte Iemitsu in Edo (dem heutigen Tokio) nicht lange und verweist 1638 den letzten Eindringling – zur Not mit Gewalt – des Landes. Aber auch den eigenen Landsleuten ist es fortan verboten, die Insel zu verlassen. Die zweihundertjährige Zeit der Abschließung beginnt. Einzig den Holländern (und den Chinesen) wird erlaubt, von einem einzigen Vorposten aus, mit Japan Handel zu treiben. Die Holländer müssen fortan auf der künstlich aufgeschütteten Insel Dejima, im Hafen von Nagasaki leben. Einmal im Jahr allerdings ist es dem Vorsitzenden der Holländischen Ostindischen Kompagnie gestattet, zum Empfang des Shoguns nach Edo zu reisen.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung bringt die Zeit der Abschließung für Japan eine große Blüte. Die Ausstellung zeigt in den folgenden Räumen wertvolle Porzellan- und Lackarbeiten, die in dieser Phase entstanden und in Europa als Luxusgüter begehrt sind. Erst 1709 gelingt es in Sachsen, das Geheimnis des „weißen Goldes“ zu lüften ... In Japan wächst unterdessen unter dem Einfluß der deutschen Mediziner Philipp Franz von Siebold und Engelbert Kaempfer das Bedürfnis nach „Rangaku“, westlichem Wissen. Vor allem im Bereich der Astronomie, Medizin, Tier- und Pflanzenkunde beginnen japanische Gelehrte, europäische Lehrbücher zu kopieren, später zu erweitern und neu zu formulieren. Die photographisch genaue Darstellung der japanischen Fischwelt, zum Beispiel des Lophius setigerus, gehört zu den besten Rangaku-Illustrationen der Ausstellung. Der Raum ist dem Werk Siebolds gewidmet. In holländischen Diensten gelingt es ihm, in der Endphase der Abschließungszeit, erstmals ausführliche Kultur-Studien zu betreiben und so das Japan-Bild Europas zu prägen.
1853 hat sich die Lage vor Japans Küsten verschärft. Die „Schwarzen Schiffe“ des amerikanischen Commodore Perry wollen den Handel mit Waffengewalt erzwingen. Im Land bricht ein Bürgerkrieg aus, der mit der Absetzung des Tokugawa-Shoguns endet. Der junge Kaiser, der fortan die Geschäfte der aufgeklärten Meiji-Regierung führt, verkündet dem Volk: „Wakon yosai“, was man wohl mit „Japanischer Geist und westliches Wissen“ übersetzen kann. Japan will die Modernisierung, denn nur sie kann das Land dauerhaft vor den Ansprüchen der westlichen Mächte schützen.
Das hartnäckige und sehr europäische Vorurteil, die rigide Abschottung habe Japan endgültig aus der Geschichte des Fortschritts herauskatapultiert, entlarvt sich in den Jahren der Öffnung als frommer Wunsch der konkurrierenden Mächte. Die Drohung „Wer sich nicht kolonialisieren läßt, wird auch nicht industrialisiert“, kann Japan nicht beeindrucken. Das Land ist bereit und gewappnet für den eigenen Weg in die Moderne.
Spätestens nach der Weltausstellung 1873 in Wien beginnt auch in Europa das Japan-Fieber. Die Bewunderung für die handwerkliche Qualität der Porzellan-, Lack- und Bambusarbeiten, Kriegerrüstungen und Seidenkimonos ist so groß, daß man der japanischen Delegation sogar die – der Tradition geschuldete – ziemlich monströse Pappmaché-Nachbildung des bronzenen Buddha-Kopfes aus Kamakura verzeiht. Im Ausstellungsbericht über die Weltausstellung in Australien, wenige Jahre später, heißt es in leicht resigniertem Ton, daß „viele Artikel so gleichförmig gut und so andersartig als alles andere ist, daß es schwierig ist, die besten Beispiele auszuwählen. Die Sammlung bietet deshalb viel zu bewundern und wenig zu beschreiben“.
Wer in diesen Tagen durch die Ausstellung im Gropius-Bau geht, steht vor einem ähnlichen Problem. Unser Wissen von Japan ist dürftig, der Wille zur Faszination groß. Während wir noch ernst und forschend den japanischen Borstenfisch begutachten, auf der Suche nach dem verständlichen Detail, bricht eine Gruppe der japanischen Festival-Gäste vor Hokusais „Fischerdorf“ in Gelächter aus. Auf dem Genre-Bild haben Kinder einen Schiffsanker zu Reckstange und Barren erklärt. Was für unsere Augen befremdlich steril und stilisiert wirkt, liest der Eingeweihte längst als guten Comic strip. Haben Sie, fragt ein japanischer Besucher, eigentlich schon „Holländer und japanische Kurtisane“ gesehen? Es ist ein versteckter, hochhängender Farbholzschnitt aus dem Dejima-Saal, entstanden um 1800, und zeigt ein Paar beim Geschlechtsakt. Wir denken, es ist ein sozialkritisches Bild: hatten doch die Japaner den Holländern verboten, ihre Ehefrauen nach Dejima mitzubringen, und zwangen die eigenen Kurtisanen aus Gründen der Sicherheit oder Staatsräson, zu den „Nanbanjin“, den Fremden mit Bärten und langen Nasen, zu gehen. Das weitere bleibt uns verschlossen. Dabei sind die japanischen Schriftzeichen am Rande das Punktum. Der Holländer stammelt auch für die Japaner wunderbar Unverständliches, die Kurtisane ist ganz klar im Kopf: „Es ist zu lang und zu dick. Ich hoffe, es wird nicht eng.“
Es scheint, die Japaner haben das Gift „Europa“ zu allen Zeiten mit äußerster Vorsicht und in kleinen Dosen genossen. Sie haben sich nicht dazu verleiten lassen, das Andere zu genau verstehen zu wollen. Sie wählten stets den diplomatischen Umgang mit Europa. Den Blick der Einfühlung, der Psychologie, der romantischen Schwärmerei brauchte es nicht. Während die europäische Kultur so gerne nach dem Warum, den Letztbegründungen des Seins fragt, hat die japanische Kultur ganz andere Fragen gestellt: Wie funktioniert das? Und: Wie ist das gemacht? Daraus hat Munzinger schon 1898 das beliebteste der europäischen Vorurteile formuliert: „Der Japaner hat Talent, aber kein Genie.“ Talent heißt abschätzig, Fähigkeit zur Nachahmung. Bis heute steht die europäische Kultur deshalb vor dem Rätsel, warum haben es die Japaner – „als einzige nicht-europäische Kultur“ – technisch und wirtschaftlich eigentlich so weit gebracht? Wir begreifen nicht, warum die Kopie besser sein kann als das Original.
So ist der letzte Teil der Japan- Ausstellung, der sich der Avantgarde-Bewegung widmet, in vieler Hinsicht eine Bestätigung des westlichen Vorurteils. Insbesondere Paris, Berlin und Moskau reklamieren für sich Impressionismus, Expressionismus und klassische Moderne. Ein Leichtes ist es, festzustellen, wie wunderbar leicht van Gogh, Klee, Klimt oder Manet auf die Einflüsse der japanischen Farbholzschnitte reagiert haben. Der „Japonismus“ des Jugendstils ist längst bekannt.
Daß aber Herwarth Walden nicht nur mit Franz Marc sondern auch mit Murayama Tomoyoshi eng befreundet war, gehört nicht zum Allgemeinwissen. Die von Murayama später in Japan gegründete Avantgarde-Zeitschrift Mavo scheint eine gute Sturm-Adaptation mit Bauhauselementen zu sein. Von den „roaring twenties“ in Japan ist in Europa bis heute fast nichts bekannt.
Wahrscheinlich wäre es zu viel verlangt, die Ausstellung „Japan und Europa“ müßte auch dieses Kapitel der Auseinandersetzung in befriedigender Weise erhellen. Die Ausstellung endet – bedachterweise – 1929, im Jahr der ersten Weltwirtschaftskrise, kurz bevor der Militarismus in Japan nicht nur die Avantgardebewegung niederwalzte. Eines der wichtigsten Bilder, das 1929 entstanden ist, stammt von Koga Harue, dem Sohn einer buddhistischen Priesterfamilie, der Japan nie verlassen
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hat. In surrealistischem Pathos feiert er in seinem Ölbild „Vogelkäfig“ die Segnungen der modernen Technik, die dem Menschen eine neue Ästhetik eröffnen sollen. Der Blick fällt auf eine verzweigte Versuchsapparatur, die im Surren der Ventilatoren über Kolben und Glasglocken hinweg die Welt am Leben hält. Ein fragiles Destillationsröhrchen verbindet die Außenwelt mit schwimmenden Schwänen mit einem großen Vogelbauer im Innern des Laboratoriums. Im Käfig posiert ein Frauenakt, die weißen Beine übereinandergeschlagen. Koga hat dazu folgende Zeilen notiert: „Öffne die schwere runde Glastür und richte den Blick auf die Ziffern und Zeichen der Laboratoriumszeichnungen ... Im Rhythmus der Lichtstrahlen hebt die junge Frau in Pantoffeln ihr Bein an. Es erzählt von der wunderbaren Hochzeit des Blumengebindes mit der Maschine. Die junge Frau betrachtet alle Dinge des Universums durch eine vollkommen klare Linie und erkennt sie ganz genau ...“ – man glaubt, eine Blick zu werfen durch Marcel Duchamps „Großes Glas“...
„Japan und Europa: 1543–1929“, Martin-Gropius-Bau, Berlin.
Dienstag bis Sonntag 11–20 Uhr, bis zum 12. Dezember. Katalog 632 Seiten, DM 40, Essayband 96 Seiten, DM 7, beides im Argon-Verlag Berlin
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