Berufskranke ohne Unterstützung: Fehler mit Signalwirkung
Ein Zimmermann klagt über Lähmungen. Schuld sind Lösungsmittel, denen er im Job ausgesetzt war. Doch das Gericht verwehrt ihm eine Entschädigung.
Die Gefühllosigkeit an seinen Füßen bemerkte Hermann Wackler erstmals 1990. Diese Lähmung nahm im Lauf der Jahre zu. Er ging vorzeitig wegen Berufsunfähigkeit 1992 in Rente. Sein Arzt schöpfte Verdacht, dass die Leiden des ehemaligen Zimmermanns Symptome einer Berufskrankheit sind. In einem solchen Fall muss die zuständige Berufsgenossenschaft dafür finanziell aufkommen. Die Geschädigten erhalten als Entschädigung für die Krankheit eine höhere Rente.
Ein Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes ergab, das Wackler sein ganzes Berufsleben mit Gefahrstoffen in Kontakt gekommen ist: mit organischen Lösungsmitteln und Holzschutzmitteln. Solche Gifte wirken auf das Nervensystem und rufen die Symptome Wacklers hervor. Ein Gutachten der zuständigen Berufsgenossenschaft diagnostizierte bei ihm Gang- und Sensibilitätsstörung bis in Kniehöhe beiderseits, Störung der Feinmotorik und Sensibilität beider Hände, Nierenschädigung, Lungenasbestose und Penicillinallergie.
Trotzdem bekam er keine Berufskrankheitenrente (BK). Verschiedene Gutachten wechselten sich ab: Der Zusammenhang zwischen seinen Leiden und seiner ehemaligen Tätigkeit wurde immer wieder infrage gestellt. Sein Ringen um die Anerkennung der Berufskrankheit endete erst nach 13 Jahren: im Dezember 2007 am Landesgericht.
Die Dauer in solchen Fällen ist hierzulande die Regel. Die Begründung allerdings, mit der das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Klage Wacklers ablehnte, hat für Aufsehen gesorgt. Der Umstand, dass die Krankheitssymptome des Handwerkers sich auch in den Jahren nach seiner Verrentung verschlimmerten, wurde im Urteil als Beleg dafür genommen, dass damit eine Verursachung durch Lösungsmittel ausgeschlossen sei. Das steht nicht nur im Widerspruch zu zahlreichen Veröffentlichungen der Arbeitsmedizin. Damit folgte das LSG ausgerechnet der Argumentation einer Arbeitsgruppe beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (DGUV), jenem Dachverband also, dessen Mitglieder im Fall der Anerkennung einer BK zahlen müssen.
"Solche Urteile dienen der Systemerhaltung", sagt Erich Schöndorf. Der Professor für Umweltrecht und öffentliches Recht hat mit ähnlichen Verfahren bei seiner ehemaligen Tätigkeit als Staatsanwalt Erfahrungen gesammelt: "Weil die Berufsgenossenschaften es finanziell gar nicht tragen könnten, für sämtliche Schäden aufzukommen, kommen die Betroffenen nicht zu ihrem Recht." Die Kosten werden auf das Gesundheitssystem und die Rentenkasse abgewälzt.
Besonders fragwürdig beim aktuellen Urteil: Es widerspricht den Erkenntnissen, die vom Sachverständigenrat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) 2005 in einem Merkblatt publiziert wurden (s. Interview).
Im BMAS hingegen ist das Interesse am LSG-Urteil gering. Für ein Interview stand niemand im Ministerium selbst zu Verfügung. In einer Stellungnahme heißt es: "Das Gericht hat sich eingehend mit der Bedeutung des Krankheitsverlaufs nach Ende der Lösungsmitteleinwirkung auseinandergesetzt und hierzu entsprechende Sachverständigengutachten eingeholt."
Da das Urteil im Januar dieses Jahres rechtskräftig geworden ist, wird der Richterspruch des LSG künftig in ähnlichen Fällen als Präzedenzfall behandelt werden. Erst wenn das Bundessozialgericht sich einer solchen Causa annimmt - und umsteuert -, findet dieser Zustand ein Ende. Dass ein Gericht die Aussagen von Gutachtern eines Interessenverbandes denen einer neutralen staatlichen Institution vorzieht, hält Hans-Joachim Woitowitz, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenbeirats, für eine weitere "Verschiebung grundsätzlicher Art".
Nicht nur für Wackler hat dieses Verfahren die fatale Konsequenz, dass seine Berufskrankheit nicht anerkannt wurde. In Baden-Württemberg werden künftig weitere Fälle folgen, bei denen es den Betroffenen ebenso ergehen wird. Nicht zuletzt, weil die DGUV solche Urteile immer sehr breit streut, wird das LSG-Urteil voraussichtlich auch Fernwirkungen in allen anderen Bundesländern erzielen. "Darüber hinaus", warnt Woitowitz, "hat dieses Urteil für unser System der Rechtsfindung eine sehr bedenkliche Konsequenz." Eine früher lang geübte Praxis werde nun nicht mehr angewandt: anders lautende Erkenntnisse vor einem Urteil zur Beratung in den Sachverständigenbeirat einzubringen.
Die Initiative kritischer Umweltgeschädigter e. V. (IkU) will das Ruder allerdings noch herumreißen. Die IkU hat sich zur Aufgabe gemacht, Fälschungen und Manipulationen bei Verfahren um die Anerkennung von Berufskrankheiten aufzudecken. Dabei befasst sich der Verein intensiv mit der Wirkung von Giftstoffen auf die menschliche Gesundheit. "Wir haben das Urteil des LSG Baden-Württemberg analysiert und können beweisen, dass die am Verfahren beteiligten Gutachter Lehnert, Triebig und Konietzko massive Datenmanipulationen begangen haben - und somit wegen schweren Prozessbetrugs belangt werden könnten", sagt Peter Röder, Vorsitzender des Vereins. So klare Beweise habe man bislang selten zur Hand gehabt. "Wir werden gegen diese Gutachter Strafanzeige wegen Prozessbetrugs erstatten."
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