Berufsintellektuelle und Macht: Wer spricht für wen?
Burundi wurde in den 90er Jahren von einem Bürgerkrieg zerrüttet. Wer erzählt seither wie über das ostafrikanische Land? Das ist eine Machtfrage.
Es war noch recht früh an einem Dienstagmorgen, als mein Fahrer vor einer Bungalowanlage im Zentrum Bujumburas hielt. Ich war erst vor zwei Tagen in Burundi angekommen, in Deutschland war tiefer Winter, und nun blickte ich auf einen in der Hitze flirrenden Metallzaun, hinter dem das Parlament des ostafrikanischen Landes untergebracht war. Mit einem Parlamentsabgeordneten war ich verabredet, um über die „Wahrheits- und Wiedergutmachungskommission“ zu sprechen, die lange überfällige staatliche Antwort auf den brutalen Bürgerkrieg, der das Land in den 1990er Jahren zerrüttet hatte.
Ein Parlamentsangestellter geleitete mich zu einem kahlen, mit schweren Ledersesseln mobilierten Büro. Auf einem Couchtisch standen Wasserflaschen, die Fenster waren vergittert. „Mein“ Abgeordneter, nennen wir ihn A., war ein gut gekleideter, höflicher Mann Mitte dreißig. Er war Mitglied der CNDD-FDD, der regierenden Partei Burundis, die das Parlament ebenso wie das Land dominiert und den Großteil des wenigen Geldes kontrolliert, das durch den siebtärmsten Staat der Welt rinnt.
A. sei sehr froh, mich zu treffen, flüsterte mir der Dolmetscher auf Englisch ins Ohr. Andere, erklärte A., weigerten sich, mit Vertretern seiner Partei zu sprechen, sie ließen sich ihr Bild des Landes lieber von den NGOs zusammensetzen, der zivilgesellschaftlichen Opposition. Ich nickte. Der Übersetzer flüsterte, A. sprach, ich verstand sein Französisch zu gut, um es zu überhören, und so fand ich mich in einer doppelt erzählten Geschichte wieder und meinte, den Dolmetscher immer wieder bei Unstimmigkeiten zu ertappen, aber vielleicht täuschte ich mich auch.
Man sei endlich mutig genug, die Frage nach Aufarbeitung der Bürgerkriegsvergangenheit zu behandeln, hat mir damals der Parlamentarier A. in seinem Büro über die Wahrheitskommission gesagt und eine Wasserflasche aufgeschraubt. Lange wurde sie hinausgezögert, immer wieder im Parlament gebremst, verschoben, umgestaltet. Das größte Manko aber war, und das sagte A. natürlich nicht, sondern trank einen Schluck Wasser: Sie lag in der Hand der Regierungspartei CNDD-FDD, die recht autoritär, jedenfalls ohne deutliche Gegenstimmen, das Land regiert.
Im Bürgerkrieg verstrickt
Die Kommission hat ein berühmtes Vorbild, die Wahrheitskommission Südafrikas, die von Nelson Mandela nach dem Ende des Apartheidregimes eingesetzt worden war. Auch in anderen Post-Konflikt-Staaten ist diese Idee einer Kommission ausprobiert worden, die die großen Vergehen einer Regierung während einer Diktatur oder eines Bürgerkriegs offenlegen soll. Und jetzt Burundi.
Hintergrund: Der Bürgerkrieg in Burundi kostete seit 1993 rund 300.000 Menschen das Leben. Im Mai dieses Jahres wird in dem ostafrikanischen Land ein neues Parlament und im Juni ein neuer Präsident gewählt.
Autorin: Nora Bossong („Gesellschaft mit beschränkter Haftung“) lebt als Schriftstellerin in Berlin. Ihr vierter Roman „36,9 °“ wird im August im Hanser Verlag erscheinen. Antonio Gramsci, auf den sie sich in ihrem Artikel beruft, spielt darin eine zentrale Rolle.
(Foto: Rabea Edel)
Amnestien für Kriegsverbrecher, wie es sie in Südafrika der neunziger Jahre noch gegeben hat, sind nach heutigem Völkerrecht allerdings nicht mehr möglich. Von Seiten der burundischen Regierung, in der viele Mitglieder in den Bürgerkrieg verstrickt waren, wird versucht, die Amnestien durch temporäre Immunitäten zu ersetzen – und durch die Taktik des Hinauszögerns. Pläne für ein Straftribunal, das im Abkommen von Arusha aus dem Jahr 2000 als zweiter wichtiger Pfeiler neben der Wahrheitskommission vorgesehen war, liegen bislang auf Eis.
Die meisten Burunder, mit denen ich während meines Aufenthalts sprach, glaubten nicht recht an das Projekt, auch wenn einige meinten, die Kommission sei dennoch notwendig. Auch, wenn man weiß, dass Wahrheit und Gerechtigkeit nicht möglich sind, ist ein Bemühen darum immer noch besser auszuhalten als Gleichgültigkeit.
Mein Cousin, der seit drei Jahren in Burundi lebte und arbeitete, erklärte mir, wie er das Land sah und las. Es lag ein Trauerverbot über dem Land. Die Menschen, die Wirtschaft, die gesellschaftlichen Prozesse durften nicht gänzlich an die Lethargie und Verzweiflung verloren gegeben werden. Versöhnung war so schwer wie unabdingbar. Wie lange trauert man angemessen angesichts eines Mordens, das einem Genozid nahekommt und nur aufgrund juristischer Feinheiten, nicht aber aufgrund der Opferzahl so nicht genannt wird, wenn es keinen Erwachsenen mehr gibt, der nicht einem Mord zugesehen, einen Angehörigen verloren hat, einige, nicht wenige, haben selbst gemordet?
Man würde das Land ein zweites Mal entvölkern, brächte man alle, die in dieser oder jener Weise schuldig sind, hinter Gitter. Es ist eine Situation, in der unsere zivilen Vorstellungen von Rechtsstrafe nicht mehr greifen. Es ist ein Moment, in dem man nach Wahrheiten sucht angesichts von Unverdaubarem, Unsagbarem und sie zugleich für unmöglich hält.
Offizielle Wahrheiten
Der Versuch, offizielle Wahrheiten zu finden, ist per se fragwürdig, und wenn das Anliegen der Versöhnung auch notwendig ist, so bleibt eine Vergebung, die von einer durch Korruption und Nepotismus geprägten Parteielite oktroyiert wird, dubios, ja unzumutbar und auch gefährlich. Wenn „die Wahrheit“ diktiert wird über die Köpfe der Menschen hinweg, anstatt ihre je eigenen Wahrheiten anzuerkennen, ist eine Gegenerzählung das einzige Mittel, um nicht zu verschwinden.
Eine deutliche vernehmbare Zivilgesellschaft ist dann umso wichtiger und das Erzählen von Geschichten, die gegen die offizielle, die vorlektorierte Geschichte gestellt werden, vieler Geschichten, die in ihrer Diversität die Dominanz der Macht unterwandern können. Die Frage ist nur: Wie erzählen? Und wer darf erzählen? Sind es allein die Opfer? Die Täter? Die Schlichter? Die Zuschauer? Wir alle?
Für die Stummen sprechen, das ist eine poetische Ethik, die uns aus der Literatur des 20. Jahrhunderts im Speziellen bekannt ist: Über die Opfer des Holocaust, die nicht mehr sprechen konnten, musste von jenen, die überlebt haben und dies nicht selten mit einem lebenslangen Schuldgefühl bezahlten, erzählt werden. Die Lebenden leihen den Toten ihre Stimme. Doch welche Lebenden sind dazu berechtigt? Müssen es Überlebende sein, also jene, die das Schicksal bis zu einem gewissen Grad, bis zu dem Punkt des Nichtmehrsprechenkönnens teilten? Es würde unserem instinktiven Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, würden die Täter für die Opfer sprechen, es käme uns schamlos, ja vermutlich pervers vor.
Doch wie weit gehen wir in der Genealogie der Täterschaft? Wenn wir den Bürgerkrieg in Burundi betrachten, würden wir jene Menschen als Täter bezeichnen, die physisch töteten? Oder jene, die einen Mord nicht verhindert haben, obwohl sie es gekonnt hätten? Oder würden wir in der Ursachenforschung so weit gehen, dass wir in den kolonialen Strukturen, die bestimmte Mächteverhältnisse und -ungleichgewichte teils erfunden, teils institutionalisiert haben, auch noch Täter erkennen?
Hieran schließt sich die Frage nach den Grenzen europäischer Einmischung an und danach, wie global unser Denken und unser Erzählen geworden ist, geworden sein kann. Für jemanden zu sprechen und zu erzählen ist eine Form der Anmaßung, und von Europa aus gesehen womöglich eines fortgesetzten Herrschaftsversuchs, die Weiterschreibung des fremden Anderen, ein Herz der Finsternis mit zeitgemäßer Empathie.
Ronald Ssegujjas Kurzgeschichte „Mzungu in Kampala“ über eine junge Europäerin, die in einem Café in Kampala sitzt und das dortige Treiben bewertet, scheint mir eine angemessene Antwort darauf zu sein. Bei der Frage: Wer erzählt für wen?, dreht Ssejujja den Spieß um. Das ist mindestens gerechtfertigt, wenn nicht gar notwendig, um vergangene Kräfteverhältnisse zu destruieren. Gleichwohl bleibt man hiermit einer hergebrachten Zuschreibung verhaftet: Was man selbst ist und in welchen Machtkonstellationen man sich befindet, und nicht die Frage, was einen angeht, entscheidet, für wen man spricht. Die Biografie autorisiert vorgeblich die Erzählhaltung und blendet so den Umstand aus, dass die, die erzählen, grundsätzlich in Kauf nehmen müssen, für jene zu sprechen, die sie nicht darum gebeten haben.
„Alle Menschen sind Intellektuelle“, schreibt Antonio Gramsci, „aber nicht jedem kommt in der Gesellschaft die Rolle eines Intellektuellen zu.“ Nennen wir sie Berufsintellektuelle, jene Menschen, denen die Gesellschaft zweierlei zugesteht: Zeit, gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren, und einen öffentlichen Ort der Meinungsäußerung – sei es in Interviews, als Mitglied einer Expertenkommission oder als Professor mit hundert Studierenden vor sich. Ökonomen, Philosophen, heute vielleicht auch, vielleicht sogar im besonderen Maße Mitarbeiter von Ratingagenturen, Profiler und Berater gehören dazu, ebenso Schriftsteller als institutionalisierte Sprecher, die allerdings oft nicht mehr besonders laut tönen.
Das ist eine doppelte Zwickmühle: Wir werden überhört und zugleich droht uns, dass wir als Teil des Establishments missliche Verhältnisse stabilisieren, anstatt für die Verunsicherung und Hinterfragung zu sorgen, auf die wir möglicherweise abzielen. Wir glauben Machtkonstellationen zu unterwandern und bedienen sie nur von Neuem, wir meinen den Finger in die Wunde zu legen, dabei kleben wir nur ein Pflaster drauf.
Manchmal frage ich mich, ob wir am Ende nicht, ohne es recht zu merken, „meinem“ Parlamentarier A. recht ähnlich sind, subtiler und indirekter, aber doch Teil einer Machtelite, die, auch wenn aufrichtige Absichten dabei sind, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen dominiert und sich eine Expertise anmaßt, wo sie uns nicht zusteht.
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