: Berlins Nicaragua-Soliszene rappelt sich wieder auf
■ Kreuzberger Verein startet trotz Sandinisten-Wahlschlappe Großprojekt in Nicaragua / Heute Diskussion im Mehringhof
West-Berlin. Vier Monate nach der Wahlniederlage der Sandinisten haben die Berliner Nicaragua-Gruppen wieder Boden unter den Füßen gewonnen.
So ist zum Beispiel für den Städtepartnerschaftsverein Kreuzberg-San Rafael del Sur die Unsicherheit über das „Wie weiter?“ ihrer Arbeit erst einmal vorbei. Am späten Donnerstagabend entschieden sich die Solidaritätsbewegten bei nur drei Gegenstimmen für die Durchführung des bislang größten Projekts in ihrer nicaraguanischen Partnergemeinde. Bis 1993 sollen praktisch alle Dörfer des Bezirks eine vernünftige Wasserversorgung bekommen - ein ehrgeiziges Projekt, für das aus einem Topf der EG satte 480.000 DM locker gemacht werden konnten.
Dennoch, richtige Jubelstimmung wollte nicht aufkommen. Denn gestellt worden war der Antrag an die EG im vergangenen Sommer, die Bewilligung kam jedoch erst nach dem Wahlsieg des rechten UNO-Bündnisses. Und der Gedanke, sich in die von Warnke, Ebeling&Co eilig zur Unterstützung der neuen Rechts -Regierung inszenierten Hilfsprojekte einzureihen, bescherte den Nicaragua-Engagierten einige Bauchschmerzen.
„Entscheidend für uns war letztlich, auch dieses Wasserprojekt als ein bewußt politisches Projekt gemeinsam mit den Sandinisten zu machen“, erklärt der Vorsitzende des Partnerschaftsvereins, Dieter Radde. Wie das konkret aussehen kann, erklärte der zur Abstimmung eingeladene FSLN -Vorsitzende für Nicaraguas zentrale „Region III“ (zu der auch San Rafael gehört), Carlos Carrion: Die Frente Sandinista organisiert in den Dörfern „Wasser-Komitees“, um die Bevölkerung in den Bau der Brunnen und Wasserleitungen direkt miteinzubeziehen. „Während von der UNO-Regierung nichts kommen wird außer Versprechungen, können wir so ganz praktisch den Leuten zeigen, daß wir Sandinisten uns tatsächlich für das Volk einsetzen - auch wenn dann ein UNO -Bürgermeister daherkommt und am Ende das ganze einweiht!“
Gesunkenes Interesse an Nicaragua beklagt auch die Initiative für eine Städtepartnerschaft zwischen Charlottenburg und Ciudad Sandino, einer Arbeitervorstadt von Managua. „Für viele ist Nicaragua jetzt ein 'normales Entwicklungsland‘ geworden“, sagt Isabel Velte von der Charlottenburger Nica-Gruppe. „Und für etliche sind durch die deutsch-deutsche Entwicklung jetzt auch andere Sachen wichtiger geworden, Asylfragen oder die Ausländerpolitik zum Beispiel.“
Dennoch, so der FSLN-Vertreter Carrion, ist weiterhin der internationale Druck auf die Regierung von Violeta Chamorro entscheidend. Nicht zuletzt hiervon wird abhängen, wie weit der Rollback demokratischer Errungenschaften gehen wird, und ob bald auch in Nicaragua wieder die Verfolgung Oppositioneller und Todesschwadrone zentralamerikanische „Normalität“ werden. Dies redete der ehemalige Bürgermeister von Managua am Samstag auch der Berliner SPD auf ihrem Parteitag ins Gewissen. Denn diejenigen in Europa, die sich all die Jahre so um die Demokratie der sandinistischen Regierung gesorgt haben, so Carrion in seinem Grußwort an die Sozialdemokraten, dürfen nicht jetzt die Augen abwenden, wo die Demokratie in Nicaragua tatsächlich in Gefahr ist.
Bert Hoffmann
Eine öffentliche Diskussionsveranstaltung mit Carlos Carrion findet heute abend um 19.30 Uhr im Versammlungsraum des Mehringhofs, Gneisenaustraße 2, 1/61 statt.
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