Berlinmusik: Luftig und sehr dicht
Das ist doch mal ein Statement. Scheint zumindest so. „Beauty Will Be Amnesiac or Will Not Be at All“ ist ein Titel, der aufhorchen lässt. Schönheit soll also etwas mit Gedächtnisverlust zu tun haben. Wörtlich genommen, wird der Schönheit jedoch anscheinend prognostiziert, eine Amnesiekranke sein zu müssen, um überhaupt zu sein. Der Titel stammt vom französischen Kulturtheoretiker Sylvère Lotringer, was der sich darunter zweifelsfrei gedacht haben wird, muss an dieser Stelle aber offen bleiben.
Die Musik des in Berlin lebenden Komponisten Anthony Pateras hingegen gibt sich dafür weniger rätselhaft. Pateras erkundet in Zusammenarbeit mit dem Kollegen Jérôme Noetinger ein umfangreiches Spektrum an Perkussionsklängen, deren lockere polyrhythmische Verschachtelungen und Strukturen sich wie in der Minimal Music allmählich wandeln. Elektroakustisch ist das Ganze angelegt, denn Pateras und Noetinger steuern dezent schrammende Elektronik bei, während die Vielzahl an Trommeln, darunter mikrotonal gestimmte Instrumente, von Synergy Percussion aus Sydney bedient wird. Das 40. Jubiläum des Ensembles war denn auch der Anlass für die Komposition.
Am Ende mag es sein, dass man nicht mehr viel von diesen vertrackten Prozessen erinnern kann. Und da dürfte eventuell ein Teil des Sinns dieses rätselhaften Titels aufscheinen: Diese Schönheit trägt ihr Vergessenwerdenmüssen strukturell schon in sich.
Eindrucksvoll auch der Titel von Anthony Pateras Klaviersoloalbum „Blood Stretched Out“. Als Klaviermusik des 21. Jahrhunderts beworben, hat diese dichte Studie in Obertonmanipulation durch rasend schnelle Tonwiederholungen immerhin schon in der Zitadelle Spandau ein Konzert der Crossover-Band Faith No More eröffnen dürfen. Scheinbar statisch, in seinem unablässigen Puls aber höchst psychotrop und alles andere als blutarm. Mit ein wenig offenen Ohren und gutem Willen kann man dazu sogar – und sei es sehr frei – rocken.
Im engeren Sinne „zeitgenössische“ Klaviermusik, will sagen, akademische komponierte Musik ohne Zugeständnisse an Harmoniebedürftige, bietet dann das zweite Stück des Albums, „Chronochromatics“. Aseptisch wird Pateras auch diesmal nicht. Dafür hat er viel zu viel Spannung, Dynamik – und Klangfarben. Tim Caspar Boehme
Jérome Noetinger, Anthony Pateras, Synergy Percussion: „Beauty Will Be Amnesiac or Will Not Be at All“
Anthony Pateras: „Blood Stretched Out“ (beide Immediata)
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