Berlinmusik: Klänge entschlacken
Standards gehören mit zum Gefährlichsten, dem man sich im Jazz zuwenden kann. Zu ihrer großen Bekanntheit kommt erschwerend hinzu, dass sie in der Regel in ziemlich guten Interpretationen vorliegen. Wenn man sich daher beim American Songbook bedient, braucht man Selbstbewusstsein. Und eine Idee, wie die Sache laufen soll.
Die Sängerin Lucia Cadotsch, Wahlberlinerlin aus Zürich, hat sich genau dieses Programm für ihr Projekt Speak Low vorgenommen. Gemeinsam mit dem schwedischen Bassisten Petter Eldh, mit dem sie schon im Jazz-Pop-Quartett Schneeweiss und Rosenrot spielte, und dessen Landsmann, dem Saxofonisten Otis Sandsjö, bietet sie auf „Speak Low“ Klassiker wie „Moon River“, „Willow Weep For Me“ – oder den Titelsong.
Lucia Cadotsch und ihre Mitstreiter haben den Respekt vor dem kanonisierten Material direkt in ihren Ansatz übertragen. Wie auf sehr weichen Socken betreten sie das Terrain eines jeden Songs, beschränken sich bei der Lautstärke auf Piano und Pianissimo und unterziehen auch ihre Arrangements einer sorgfältigen Entschlackungskur. Sandsjö vollführt mit seinem Instrument oft sacht kreiselnde Bewegungen, die er dank Zirkularatmung fast unendlich fortsetzen kann, Eldh übernimmt in seinen diskret gezupften, sacht klackernden Tönen unauffällig den Rhythmuspart.
Das eigentlich Verblüffende an „Speak Low“ ist aber Cadotschs Gesang, dessen Ausdruck so rein und schlicht wie bei einer Folksängerin anmutet. Was die Interpretationen dann umso ergreifender macht. Bloß gelegentlich hat man den Eindruck einer Distanziertheit, die nicht recht zur Musik passen will. So wirkt die Bürgerrechtsbewegungshymne „Strange Fruit“, einer der großen Songs Billie Holidays, bei Cadotsch seltsam unbeteiligt.
Ein Meister der Zurückhaltung ist auch der Berliner Vibrafonist Simon Kanzler. „Double Identity“ heißt sein zweites Album, zugleich ist es der Name seines Projekts, in dem etwa der Pianist Elias Stemeseder und der Schlagzeuger Max Andrzejewski mitspielen. Fast impressionistisch tastet sich das Quintett an die Klänge heran, ohne das Spielerische ins Überdrehte umschlagen zu lassen. Und in der Titelsuite lotet Kanzler mitsamt Kammerensemble ein Vokabular zwischen Jazz und Neuer Musik aus, streng eingeteilt in „Rhythm“, „Harmony“ und „Polyphony“. Tim Caspar Boehme
Lucia Cadotsch: „Speak Low“ (Enja/Yellowbird/Soulfood), live 17. 4., Austerclub
Simon Kanzler: „Double Identity“ (WhyPlayJazz), Release-Konzert 14. 4., Konzerthaus
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