Berliner Wirtschaft: Produktion zum Anfassen
Bei der Langen Nacht der Industrie ließen sich 1.400 Berliner zu 33 Betrieben chauffieren. Vor allem Studierende sollten mit dieser Maßnahme angesprochen werden.
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Im Bus zum ersten Unternehmen kommt freudige Erwartung auf. Endlich soll es an diesem Abend einmal nicht um junge Kreative gehen, die auf ihren Notebooks im Café vor sich hin bosseln, und auch nicht um die schöne neue Welt der Gründer, die frische Millionen in die Stadt spülen sollen. Nein: Heute ist Lange Nacht der Industrie. Es geht um Produktion. Vielleicht sogar um jene Art der Produktion wie damals, als Berlin sich zur Industriestadt aufschwang. Als Fritz Langs „Metropolis“ entstand zum Beispiel. Oder auch die expressionistischen Großstadtgedichte eines Georg Heym, in denen viele „Schlote“ und „Güterzüge“ auftauchen und „Mützen aus Ruß“.
Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es in Berlin sechsmal so viele Industriearbeitsplätze wie heute. Jetzt hat nur noch jeder zehnte Berliner einen. Aber der Senat träumt davon, dass sich das bald ändert. Deshalb hat er den Masterplan Industriepolitik vereinbart – und eine seiner Maßnahmen ist die Lange Nacht der Industrie. Der Bus, in dem neunzehn Berliner sitzen, vor allem Studierende, Schüler und deren Eltern, ist einer von zwanzig, die 33 Betriebe ansteuern. Insgesamt lassen sich an diesem Mittwochabend 1.400 Schaulustige von der TU aus zu zwei Betrieben pro Bus chauffieren – übrigens trotz strahlenden Biergartenwetters.
Zwei dieser Berliner sind Nils T. und Jonas R. aus Buckow, 17 und 18 Jahre alt. Die beiden Teenager wollen gern Maschinenbau und Schiffbau studieren – und zwar in Berlin, wenn alles klappt. Sie sind die zukünftigen Fachkräfte, nach denen die Betriebe händeringend suchen. Allerdings war diese Tour nicht ihre erste Wahl, denn bei den angesteuerten Unternehmen wird weder gebastelt noch gehämmert. Neugierig auf das Fraunhofer-Heinrich-Hertz-Institut sind sie trotzdem, denn dort werden Kommunikationsnetze und Multimedia-Systeme entwickelt.
Realitätsnaher Sound
Nach einer kurzen Begrüßung im Foyer des Hauses am Einsteinufer führt eine freundliche Mitarbeiterin zunächst ins Time Lab, eine Art Präsentationsraum für Zukunftskino. Dort erklärt ein weiterer freundlicher Mitarbeiter eine Leinwandprojektion auf 180 Grad – und wie man dazu den passenden Sound generiert. Es ist die Rede von 140 Lautsprechen, die eine „realitätsnahe Multimedia-Umgebung“ schaffen.
Später übersetzen Nils T. und Jonas R.: Dolby Surround, wie man ihn fürs Wohnzimmer erwerben kann, funktioniert bislang nur von einem bestimmten Punkt aus. Der Sound verschiebt sich, wenn man auch nur das Sofa verlässt, um sich ein Bier zu holen. Beim Dolby Surround à la Fraunhofer kann man frei durch den Raum schlendern. Der Ton bleibt qua Gestensteuerung von jedem Punkt aus plastisch. Er verfolgt den Zuhörer in jeder Bewegung, die er macht.
Es ist, als sei man mittendrin, wenn in diesem Kino der Film einer Sasha-Waltz-Inszenierung in der Arena läuft – mit Industrie, wie man sie sich immer noch vorstellt, hat das trotzdem herzlich wenig zu tun. Dass auch die Übermittlung von Informationen und das Internet nichts Virtuelles ist, erfährt die Gruppe erst bei der nächsten Station, bei der Firma u2t Photonics AG, einer Ausgründung aus dem Heinrich-Hertz-Institut.
Hier wird gleich zu Beginn sehr praktisch erklärt, was man macht. U2t Photonics entwickelt, fertigt und vermarktet vor allem höchstens streicholzschachtelgroße Kästen, die Datensignale von Rechnern in Lichtsignale umwandeln, die von Glasfaserkabeln transportiert werden.
Fast wirkt es wie ein endlich eingelöstes Versprechen, als zwei Mitarbeiterinnen von u2t Photonics tatsächlich in ihre Fertigung führen – einen sogenannten Reinraum, vor dem sich aus Gründen der Reinlichkeit jeder Besucher lustige Haarhauben, Kittel und Schuhschoner überstülpen muss. Siehe da: Selbst das Internet kann ganz schön materiell sein.
Wie im Maus-Erklärfilm
Im Grunde wirkt die Art, wie hier Dinge zusammengeklebt und versiegelt werden, nicht viel anders als ein Erklärfilm der „Sendung mit der Maus“ – oder wie Autoindustrie. Nur, dass man am Mikroskop arbeitet und die Geschicklichkeit sowie die Geduld eines Uhrmachers benötigt.
Lange bleibt Simon S., ein Student der Nachrichtentechnik im dritten Semester an der HTW Berlin, an einem Kasten stehen, aus dem lange schwarze Gummihandschuhe ragen. Im Kasten sorgt Stickstoff dafür, dass keine Luftfeuchtigkeit von draußen eindringt – und dass sich die Handschuhe seltsam aufblasen und erratisch wippen.
Mit einem beseelten Lächeln verlässt Simon S. den Raum. Unglaublich: In Berlin werden tatsächlich Dinge produziert. Man kann sie sogar anfassen.
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